Kurze Zeit später waren Jaz und Falrey, letzterer mit frisch gewaschenen und gesalbten Armen, unterwegs zum Vollen Humpen. Sie brauchten nicht sehr lange für den Weg und waren weit vor Mitternacht dort. Es war ein Schankhaus der mittleren Grösse, mit Tischen an den Wänden, Freiraum in der Mitte und einer grossen Theke gegenüber der Türe. Die Decke wurde von den üblichen steinernen Säulen abgestützt, an denen Fackeln hingen, die den ganzen Raum in das typische, flackernde Saufhauslicht tauchten. So früh am Abend war noch nicht allzu viel los und die mit ziemlich tief ausgeschnittenen Blusen und rotbraunen Röcken bekleideten Schankmaiden standen tratschend beim Tresen, die Tabletts auf die Hüften gestützt.
Jaz setzte sich an einen der Tische und Falrey langweilte sich. Das Lokal füllte sich nach und nach, die Geräuschkulisse nahm zu. Irgendwann stand Jaz wieder auf und suchte sich einen Stehplatz näher bei der Tür. Er liess den Blick über die Menge schweifen und auch Falrey sah skeptisch in das Durcheinander. Wie wollte Jaz den Mann erkennen, den er suchte? Wie sah man jemandem an, dass er einen Auftrag ausführte? Falrey hatte keine Ahnung.
Jaz jedoch wusste es offenbar. Plötzlich wandte er sich Falrey zu. „Bleib hier! Ich komm zurück. Lass dich in nichts verwickeln und falls dich irgendein Besoffner angreift weisst du ja, was tun."
Falrey sah ihn unsicher an. „Naja, ich äh... Jaz?"
Doch Jaz war schon in der Menge verschwunden. Na toll, dachte Falrey. Er fühlte sich durchaus nicht in der Lage, sich gegen irgendwelche Betrunkenen zu verteidigen. Wenn jetzt so etwas geschah, war er einfach nur am Arsch. Sicherheitshalber hielt er sich dicht an der Wand, um ja niemandem im Weg zu stehen. Nach seinem Zeitgefühl verging eine Ewigkeit, in der er vor allem damit beschäftigt war nicht aufzufallen.
Irgendwann wurden schliesslich die Leute vor ihm auseinander geschoben und Jaz trat zu ihm. Falrey musterte ihn kurz. Er sah unverletzt aus und hatte keine frischen Blutflecken auf der Kleidung. Allerdings war das nicht gerade ein sicheres Zeichen dafür, dass der andere auch noch lebte.
Jaz trank noch etwas, dann brachen sie auf nach Hause. Sie gingen die breite Strasse, die Min-Speiche genannt wurde, hinunter nach Süden. Plötzlich bog Jaz nach rechts ab, viel zu früh, wenn Falreys Orientierungssinn ihn nicht trog. Eine Weile liefen sie nach Westen, dann bog Jaz wieder nach rechts. Hä?, fragte sich Falrey. Was wurde das? Je weiter sie gingen, desto weniger verstand Falrey. Der Weg, dem Jaz folgte, schien überhaupt keinen Sinn zu machen, er verlief so kreuz und quer, dass er weder Richtung noch Ziel hatte. War Jaz etwa verrückt geworden?
Als sie sich durch einen schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern zwängten, fragte Falrey schliesslich: „Jaz? Was wird das hier?"
Jaz bedeutete ihm still zu sein, dann flüsterte er: „Jemand versucht mir zu folgen."
Falrey riss die Augen auf und blickte zurück, doch er konnte nichts Ungewöhnliches erkennen. Nur leere, düstere Gassen. Allerdings war es unmöglich zu sagen, wer da alles in den Schatten stand, die die Wände warfen. Ihn schauderte und er eilte Jaz nach, sich immer wieder verstohlen umsehend, doch er konnte nicht einmal einen Schemen ausmachen. Woher wusste Jaz, dass da jemand war?
Eine Weile lang gingen sie nach Süden, dann bog Jaz in eine schmale Gasse ein und blieb stehen. Kaum hörbar flüsterte er: „Geh bis zur Kreuzung, bieg nach links ab und wart dort auf mich."
Damit gab er ihm einen leichten Stoss und machte sich selbst im Schatten unsichtbar. Falrey gehorchte. Er bog um die Ecke und stellte sich in den Schatten der Wand um zu warten. Dann blieb ihm nichts anderes als zu lauschen.
Zuerst hörte er nichts. Es war so still, dass die Stille in seinen Ohren zu klingen schien. Dann wurde sie plötzlich durchbrochen durch ein entsetztes Aufkeuchen und einen dumpfen Aufprall. Falrey hielt den Atem an. Jaz rauhe Stimme knurrte etwas, doch er erhielt keine Antwort, stattdessen waren Kampfgeräusche zu hören, als versuchte der andere sich zu wehren. Ein weiterer dumpfer Schlag, ein Gurgeln, Stille. Falrey hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen.
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Niramun I - Nachtschatten
FantasyNiramun, die ewige Stadt, Kessel und Spitze, ein Schmelztiegel am Rande der Wüste. Ein Ort ohne Herrscher und Gesetze, an dem das Schicksal eines Halbwaisen nur eines ist unter hunderttausenden. Auf der Suche nach seinem Vater landet Falrey mit kau...