Nach einem reichlich ergebnislosen Besuch bei einem Seidenwarenhändler im inneren Min legten Jaz und Falrey auf einem Platz zwischen den palastartigen Häusern eine Pause ein. Falrey füllte seine Wasserflasche am Pumphahn des Brunnens, trank sie leer und füllte sie noch mal. Dann lehnte er an den Brunnenrand und plätscherte mit den Fingern im Wasser. Es war heiss wie im Hochsommer, dabei musste es mittlerweile eher auf die Tag und Nachtgleiche zugehen. Bald war er drei Monde hier. Auf der Wasseroberfläche spiegelte sich ein tiefblauer, wolkenloser Himmel.
„Jaz?", fragte er.
Jaz trank noch einige Schlucke direkt vom Hahn, und wischte sich mit verzogenem Gesicht über den Mund. „Ja?"
„Regnet es hier eigentlich nie?"
„Doch, manchmal im Herbst", antwortete Jaz.
Falrey starrte ihn ungläubig an. „Und sonst nie?!"
Jaz runzelte die Stirn. „Nein, warum sollte es?"
„Ja aber...woher nehmt ihr denn das ganze Wasser?" Falrey deutete auf das randvolle Brunnenbecken. Er war völlig perplex.
„Na vom Fluss", antwortete Jaz. Nun wirkte auch er verwirrt.
„Was für ein Fluss?"
„Was, was für ein Fluss? Der Fluss. Hat ja nur einen."
Sie sahen sich beide verständnislos an.
Falrey ordnete seine Gedanken etwas. „Ich wusste gar nicht, dass es in Niramun einen Fluss gibt."
„Woher sollte das Wasser denn sonst kommen?", fragte Jaz irritiert.
„Das hab ich mich ja eben gefragt", meinte Falrey. Dann runzelte er wieder die Stirn. Das Bild der Ebene um Niramun war vor seinem inneren Auge aufgetaucht: eine endlose Fläche, absolut flach und staubtrocken. Kein Fluss weit und breit. Und ganz davon abgesehen: Niramun war ein Krater. Flüsse kletterten nicht auf der anderen Seite einer Senke wieder hinauf. Das konnte gar nicht gehen. Verarschte Jaz ihn etwa? „Woher kommt denn der Fluss?", fragte er.
„Aus den Felsen im Südosten", antwortete Jaz. „Und er fliesst in die Felswand im Nordosten."
„Schräge Welt", meinte Falrey kopfschüttelnd.
„Warum?", wollte Jaz wissen.
„Da, wo ich herkomme, fliessen Flüsse über hunderte von Meilen durch das Land. Der Sevedra fliesst bis hinauf ins Meer. Sie tauchen nicht einfach auf und verschwinden wieder."
Jaz zuckte mit den Schultern. „Niramun ist halt anders als wo du herkommst."
„Allerdings", murmelte Falrey.
Er beugte sich wieder über die Wasseroberfläche. Alles hier war anders. Und da waren so viele Menschen, Menschen, deren Namen er nie kennen würde, für immer Fremde, obwohl sie vielleicht nur zwei Strassen entfernt wohnten. So viele Leute und doch war man schlussendlich allein.
Sein Kopf zeichnete sich als dunkler Schatten gegen den Himmel ab. Wie sah sein Gesicht nochmal aus? Er hatte eine vage Idee von braunen Locken, blassen Wangen und dunklen Augenbrauen, aber er konnte sich nicht mehr richtig erinnern.
Er drehte sich um und sah zu den Läden am Rand des Platzes hinüber, die alle Waren anboten, die er sich niemals hätte leisten können. „Glaubst du, das bringt irgendetwas?"
Er nickte mit dem Kopf zu dem Seidengeschäft, in dem sie den letzten vermutlich vollkommen unbrauchbaren Tipp erhalten hatten.
„Nein", antwortete Jaz. „Zumindest nicht was die Suche nach deinem Vater betrifft." Achselzuckend fügte er hinzu: „Dafür kann ich Poss ein paar nützliche Tipps geben, wenn ich ihn das nächste Mal sehe."
DU LIEST GERADE
Niramun I - Nachtschatten
FantasyNiramun, die ewige Stadt, Kessel und Spitze, ein Schmelztiegel am Rande der Wüste. Ein Ort ohne Herrscher und Gesetze, an dem das Schicksal eines Halbwaisen nur eines ist unter hunderttausenden. Auf der Suche nach seinem Vater landet Falrey mit kau...