Kapitel 39 - Wahi

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Sie hatten beide versucht sich in einem Brunnen zu waschen, und Emila hatte schon geschlafen, als sie heimkamen, aber Falrey konnte sich ihr Erschrecken vorstellen, wenn sie am Morgen aufstand und die beiden Haufen blutiger Kleider fand, die sie nachts in der Dunkelheit ausgezogen und gegen saubere eingetauscht hatten, Falrey gegen seine alten Waldkleider. Sie musste sich vorgestellt haben, dass sie halbtot waren, bei dem vielen Blut.

Falrey selbst erwachte erst viel später, als schon die Nachmittagssonne zwischen den Vorhängen hindurch ins Zimmer schien. Er blieb liegen und tastete nach seiner Schulter. Ein sauberer Streifen Verband bedeckte den Schnitt. Er hatte gar nicht gemerkt, wie Emila ihn verbunden hatte. Er zog die Beine an und die Wolldecke enger um sich, um ihre Wärme und Behaglichkeit noch ein wenig länger zu geniessen. Dann schweiften seine Gedanken zurück zur letzten Nacht und nun weinte er stumm. Um die Toten, aber nicht, weil sie tot waren, sondern weil es für sie keinen anderen Weg gegeben hatte, als zu sterben. Und um alle, die lebten, weil sie in einer Welt lebten, die von Menschen verlangte zu töten, wenn sie nicht sterben wollten.

Schliesslich öffnete er die Augen. Jaz lag in seinem Bett auf dem Rücken. Er hatte die Augen geschlossen, aber Falrey war sich sicher, dass er wach war. „Jaz?", fragte er leise in die Stille des Raumes.

Jaz schluckte. „Ja?"

„Nächstes Mal bringt er dich um."

Jaz hielt die Augen immer noch geschlossen. „Ja, vielleicht."

Falrey sah zu Jaz blassem Gesicht hinauf, mit der Narbe, der sich über die ganze Wange zog, dann fragte er noch leiser: „Willst du sterben?"

Jaz antwortete nicht, und Falrey war sich nicht mehr sicher, ob er die Frage überhaupt gestellt hatte, oder nur gedacht.

Schliesslich sagte Jaz fast ebenso leise, aber mit einer stählernen Härte in der Stimme: „Er wird mich nicht umbringen."

Damit rollte er sich aus dem Bett und fiel auf Füsse und Hände. Er richtete sich auf und Falrey bemerkte, dass er einen Unterarm verbunden hatte. Er stieg in seine Stiefel, die dunkel und fleckig waren von altem Blut, das bestimmt nicht alles von letzter Nacht stammte. Falrey fragte sich, warum ihm diese Flecken nie aufgefallen waren. Oder vielleicht waren sie ihm aufgefallen, aber er hatte sie einfach für Dreck gehalten und wieder vergessen. Jaz griff unter sein Bett und holte zwei Messer und seinen Gürteln hervor, der einige interessante Taschen in ganz verschiedenen Formen aufwies, die jedoch unsichtbar wurden, als Jaz den Gürtel umschnallte, denn sie waren aus demselben dunkelgrauen Stoff wie die Tunika. Eindeutig zuordnen konnte Falrey nur die Schwirrerhalterungen und die Tasche für den Dolch. Jaz steckte die beiden Messer in ihre Halterungen am Unterschenkel und schnürte seine Stiefel zu.

Während er sich mit einem Schwung den Umhang um die Schultern warf, wälzte auch Falrey sich von seiner Matratze und kleidete sich an, Stiefel, Gürtel und seine langärmlige, grüne Kandartunika. Jaz sah ihn einen Moment lang schweigend an, bevor er wortlos aus dem Zimmer und die Treppe hinunter ging. Falrey sass unschlüssig da. Dann zog er die Stiefel wieder aus, holte die Messer aus der Lücke zwischen Matratze und Wand hervor und band sie sich um. Ihm fiel auf, dass er über sie die selben zwiespältigen Gedanken hatte wie über Jaz: sie waren böse, aber ohne sie würde er vermutlich nicht mehr leben. Er seufzte, zurrte die Schuhbändel wieder fest und folgte Jaz.

Emila stellte ihm etwas zu Essen hin, während Jaz reglos daneben sass. Emila fragte nichts und sie sagten nichts. Kein Wort über die blutigen Kleider. Falrey begriff, dass in diesem Haus über vieles geschwiegen wurde.

Sobald er fertig gegessen hatte, brachen sie auf. Falrey merkte schnell, wohin Jaz ging: in den inneren Het. Mittlerweile hatte er eine ungefähre Ahnung, wie die Stadt aufgebaut war. Die Viertel wurden nach den Zeiten benannt, in denen der Schatten in sie fiel, und in den meisten gab es eine Strasse, die gerade vom Fuss des Pfeilers zur Kraterwand lief. Diese wurden Speichen genannt, weil sie wie die Speichen eines Rades in der Mitte dicht beieinander lagen und sich gegen aussen immer weiter voneinander entfernten. Weiter wurde die Stadt durch die Grosse und die Kleine Ringstrasse in einen äusseren, mittleren und inneren Bereich geteilt. Der innere Het war also der Teil des Het-Viertels – auf das der Schatten bei Mittag fiel – der innerhalb der kleinen Ringstrasse lag, ein nicht allzu grosser Bereich, gerechnet an den Massstäben dieser Stadt. Grösser als Falreys Heimatdorf war er allemal.

Niramun I - NachtschattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt