Tagschatten. Oder wie sollte man das nennen? Es war ja schliesslich nicht Nacht. Trotzdem, das Wort klang genauso seltsam wie das, was es bezeichnete: einen dunklen Schatten am helllichten Tag. Oder besser gesagt Jaz, der in seinen schwarzen Kleidern und dem langen Umhang irgendwie fehl am Platz schien in der gleissenden Nachmittagssonne. Jaz war ein Wesen der Nacht. Unsichtbar, schnell und stark in der Dunkelheit, ein Dämon, eben ein Nachtschatten. Jetzt im grellen Tageslicht nur ein hochgewachsener, blasser Junge mit abgenutzter Kleidung. Ein Junge mit wenig Fleisch auf den Knochen und dunklen Augenringen, entweder nicht gesund oder viel zu schnell gewachsen. Das einzige, was nicht zu diesem Bild passte, was ihn irgendwie fremd wirken liess unter all den Leuten, waren seine Bewegungen. Er ging, als könnte nichts ihn aufhalten. Das Merkwürdige dabei war, dass die Leute ihm tatsächlich aus dem Weg traten, auch Männer, die doppelt so breit waren wie er. Und davon gab es hier einige.
Sie waren weit nach Südwesten gegangen. Die Gassen hier waren schmal, die Häuser hoch, die Fassaden dreckig von Rauch, der noch weiter westlich aus hunderten von dicken Schornsteinen aufstieg. An vielen Wänden führten schmale Treppen hinauf zu Türen in den oberen Stockwerken. Horden von Kindern rannten johlend umher und kletterten über Metallleitern auf die Dächer, während ihre Mütter an Leinen über der Strasse die Wäsche aufhängen. Die Hauswände standen so dicht beieinander, dass kaum drei Hemden auf eine Leine passten, deshalb hing ein ganzes Gewirr von Fäden über den Gassen. Kein einziges der Kleidungsstücke und Leintücher war wirklich weiss, die meisten hatten Flecken und viele Flicken, die Gesichter der Kinder waren dreckig und in den Augen der Erwachsenen lag der ernst eines Alltags, der nicht einfach war.
Jaz bog in eine etwas breitere Gasse ein, dann betrat er einen Laden, über den eine Zange und ein Hammer an die Wand gemalt waren. Das Geschäft war schmal und in die Länge gezogen, und vollgestopft mit Waren. In dem spärlichen Licht, das durch zwei kleine Fenster hereinsickerte, sah Falrey Regale voller Kessel, Laternen, Haken und Löffel, dazu kistenweise Nägel in allen Grössen, alles aus Metall und mit einer dünne Staubschicht. Jaz ging zwischen den Regalen hindurch in den hinteren Teil des Raumes, der von zwei Öllampen erhellt wurde. Hier hingen Werkzeuge an den Wänden, Hämmer, Äxte und Sägen, auf einem Regalbord lag eine ganze Armee von Scheren, darüber Stechbeitel und Zangen. An der Stirnseite des Ladens stand eine steinerne Theke, dahinter sassen zwei Männer. Der Ältere von ihnen war klein und hager, sein silbergraues Haar war sehr kurz geschnitten, seine hellen Augen blitzten wachsam aus einem scharf geschnittenen Gesicht. Er stützte sich mit den Armen auf der Theke ab und sah Jaz entgegen, während sich der jüngere, ein breitschultriger Blondschopf, gelangweilt mit einer Drahtschere die Fingernägel stutzte.
Der Ältere musterte Jaz von Kopf bis Fuss und Erkennen blitzte in seinen Augen auf. „Was brauchst du?", fragte er.
Ein spöttisches Lächeln zuckte um Jaz rechten Mundwinkel. „Keine Säge", antwortete er.
Der Jüngere sah kurz auf, musterte Jaz und wandte sich dann wieder seinen Fingernägeln zu.
„Natürlich nicht", meinte der Ältere und sein Mundwinkel zuckte ebenfalls. „Takker, pass auf den Laden auf."
Der Blondschopf nickte knapp, währen der Ältere sie durch eine Türe in einen Nebenraum führte. Er zündete eine Laterne an und hängte sie in der Mitte des Raumes an eine Kette, die von der Decke hing, dann schloss er die Tür und sah Jaz an. „Also, was brauchst du?"
„Schwirrer", antwortete Jaz.
Der Mann ging zu einem grossen Schrank mit zahlreichen Schlubladenfächern. „Welches Kaliber?"
„Sechzehner mit Schwerpunkt vorne."
„Wie viele?"
„Zehn."
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Niramun I - Nachtschatten
FantasíaNiramun, die ewige Stadt, Kessel und Spitze, ein Schmelztiegel am Rande der Wüste. Ein Ort ohne Herrscher und Gesetze, an dem das Schicksal eines Halbwaisen nur eines ist unter hunderttausenden. Auf der Suche nach seinem Vater landet Falrey mit kau...