Jaz tat während der nächsten Tage nichts, als auf seinem Bett zu sitzen und wortlos vor sich hin zu starren. Wann immer Falrey in das obere Zimmer kam, sass er so da, den Rücken an die Wand gelehnt und den Blick irgendwo in die Ferne gerichtet, weit hinter die Mauern, die ihn umgaben. Emila verhielt sich abgesehen davon, dass sie ihm einen Krug Wasser hinstellte, so als wäre er nicht da, und Falrey traute sich nicht, ihn anzusprechen. Einerseits hatte er natürlich Angst davor, geschlagen zu werden, wenn er es tat, aber das war nicht der wirkliche Grund. Jaz wirkte so versunken, so weit weg, dass Falrey es nicht wagte, ihn zurück zu holen. Er wusste nicht, woran Jaz dachte, was er sah, er konnte in den schwarzen Augen so wenige lesen wie eh und je, aber er ahnte, dass er es auch niemals wissen wollte. Er hatte den Hass gesehen. Wer wusste, was Jaz in seinem Inneren sonst noch verbarg? So sprach er ihn nicht an, und versuchte wie Emila so zu tun, als wäre nichts Seltsames dabei, wenn einer tagelang vor sich hinstarrte, auch wenn er sich dabei schlecht fühlte.
Die Konsequenz von Jaz Regungslosigkeit war, dass Falrey nichts zu tun hatte. Die letzten Tage waren ausgefüllt gewesen von Training, und in den Nächten hatte er zwar wenig anderes getan als warten, in Schenken oder auf Dächern, aber er hatte niemals selber entscheiden müssen, was er tun und wohin er gehen würde. Jetzt hatte er plötzlich jede Menge Zeit, mit der er nichts anzufangen wusste. Er hatte das Gefühl, etwas Sinnvolles tun zu müssen, aber was?
Der erste Gedanke, der ihm gekommen war, war Emila wieder auf Patientenbesuche zu begleiten, wie er es in den ersten zwei Wochen in Niramun getan hatte. Aber es widerstrebte ihm. Einerseits, weil er wusste, dass er dabei nicht sehr nützlich war, andererseits, weil er sich noch zu gut daran erinnerte, wie sie ihn vergessen hatte. Und es war einfach so, dass er Emila nicht mehr mit den gleichen Augen sah wie in jenen ersten Tagen. Sie war ihm fremder geworden, so absurd es auch klang. Weil er jetzt wusste, dass sie nicht einfach nur das Gute in Person war, sondern anderes dahinter verbarg.
Seine zweite Idee war in der Stadt herum zu streifen und sie weiter zu entdecken. Aber er wusste nicht, was er eigentlich entdecken wollte. Die Hoffnung, seinen Vater zu finden, hatte er aufgegeben und ansonsten hatte ihm diese Stadt längst mehr gezeigt, als er jemals hatte wissen wollen. Natürlich, es hätte noch vieles zu sehen gegeben, was ihn erstaunt, verwundert, schockiert hätte. Aber er hatte schlicht nicht das Bedürfnis, noch irgendetwas Schockierendes mehr zu sehen.
So kam es, dass er die Tage grösstenteils damit verbrachte, auf dem Dach zu sitzen und nachzudenken. Am Anfang fiel es ihm schwer. Seine Gedanken flogen unbeständig hin und her, ohne jemals ein Thema so weit zu verfolgen, dass ein Resultat dabei entstanden wäre. Zum Beispiel bemerkte er, dass eine seltsame Stimmung über der Stadt hing, seit klar war, dass der Regen ausbleiben würde. Es war keine Angst oder Nervosität, ja selbst es als Unruhe zu bezeichnen wäre zu weit gegangen. Das Gefühl war dünn und flüchtig wie Nebel. So als wären alle Bewohner der Stadt ein kleines bisschen schlechter gelaunt als vorher, unmerklich beim einzelnen, erst spürbar in der Masse. Allerdings erklärte ihm diese Beobachtung nicht, warum es so war.
Etwas anderes, das er feststellte, war, dass es plötzlich kühler wurde. Nicht wirklich kalt, längst nicht so kalt, wie es in den Wäldern um diese Jahreszeit war, aber die sengende Hitze, die den ganzen Sommer über geherrscht hatte, schwand mit jedem Tag, als hätte die Sonne einen Teil ihrer Kraft verloren.
Irgendwann brachte er es schliesslich fertig, sich wenigstens halbwegs auf das zu konzentrieren, worüber er nachdenken sollte: darüber, was er in Zukunft machen würde. Es war klar, dass er Emila und Jaz nicht ewig zur Last fallen konnte. Das hätte Jaz nicht zugelassen und er selbst wollte es auch nicht. Genauso ausgeschlossen war, dass er sich von Jaz irgendwie in seine dunklen Machenschaften hineinziehen lassen wollte. Nicht, dass er als Mörder mit seiner schmächtigen Gestalt etwas getaugt hätte, aber es erschien ihm schon unrecht zu stehlen. Und am Ende waren sie doch alle irgendwie ineinander verstrickt. Eine Welt, die von einem Mann mitunter verlangte zu töten, um nicht selbst getötet zu werden, war nicht die seine und solange er irgendeine Wahl hatte, würde er einen anderen Weg wählen.
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Niramun I - Nachtschatten
FantasyNiramun, die ewige Stadt, Kessel und Spitze, ein Schmelztiegel am Rande der Wüste. Ein Ort ohne Herrscher und Gesetze, an dem das Schicksal eines Halbwaisen nur eines ist unter hunderttausenden. Auf der Suche nach seinem Vater landet Falrey mit kau...