Naomi war nur ein Schatten, von dem, was sie einmal gewesen war. Und das zeigten mir nicht nur ihre blasse geschundene Haut und die fast weißen Augen.
Ich wandte mich ab und ging in die Küche. Dort begegnete sie mir wieder. Wie aus dem Nichts tauchte sie vor mir auf. Schweigend saß sie auf dem Tisch, welcher in der Mitte der Küche stand und mehr Fläche zum Kochen bot.
„Wie kommt es, dass du deine Gestalt so gut halten kannst?", fragte ich mit tonloser Stimme und starrte den Tisch unter ihr an. Meine Schläfen pochten wie verrückt.
„Ach Aiden, die Sache gestern hat dir wohl nicht gut getan ... zu viel getrunken? Du bist ja wirklich ... zutraulich ... wenn dein Kopf nicht mehr richtig funktioniert. Ach, und du solltest vielleicht, einen Spaziergang machen, bei mir wirkte sowas immer Wunder. Zumindest, wenn ich verkatert war.", entgegnete sie. Ihre Stimme schien unendlich weit weg, „Oh, und wo ist eigentlich der andere? Du weißt schon, dein Freund."
„Du meinst Second? Nicht hier...", ich verfluchte mich selbst, als ich bemerkte, dass sich Bitterkeit in meinen Unterton geschummelt hatte. Ein stechender Schmerz durchzuckte meine Brust.
„Anscheinend...", mit einer anmutigen Bewegung überschlug sie ihre Beine, „Ach, und Aiden, dein Date von letzter Nacht hat dir etwas hinterlassen. Einen kleinen Liebesbrief plus einigen Pillen, wahrscheinlich sollen die gegen den Kater helfen." Ein lächeln trat auf ihr zerfetztes Gesicht.
Misstrauisch betrachtete ich sie. Das schien ihr so unangenehm, dass ihre Gestalt zu schwinden begann.
„Hör auf mich so anzustarren, ich will dir nichts Böses, ich bin dir nicht einmal sauer, dass du mich hast sterben lassen. Und der Schlampe nehm ich bloß übel, dass sie mein Gesicht zerfetzt hat. Also, bitte glotz nicht so behindert, denn ich hab mir mein jetziges Aussehen nicht so gewünscht.", mit diesen Worten sprang sie vom Tisch und folgte mir zurück in mein Zimmer.
Sie hatte nicht gelogen, mein gestriger Ausrutscher hatte mir in der Tat einen gefalteten Zettel, ein Glas Wasser und drei Pillen hinterlassen. Ich hob eine Augenbraue. Anschließend griff nach dem Zettel, und als ich ihn entfaltet und gelesen hatte glaubte ich, ich spinn. Fuck, dachte ich mir und betrachtete die Pillen. Eine geschlagene Sekunde starrte ich sie an, als sein sie giftig.
„Keine Sorgen Aiden, die sind nicht giftig, es sind wirklich einfach nur Pillen.", sagte Naomi direkt neben mein Ohr. Heftig zuckte ich zusammen und sprang zurück.
„Verdammt lass das! Und woher willst du das wissen?", fragte ich irgendwie irritiert. Ich hasste es, wenn mir Leute, eigentlich Gestalten wie sie zu nahe kamen, oder im generellen irgendwelche Lebewesen.
„Oh mein Lieber, du vergisst, dass ich in allen Zeiten lebe und diese auch betrachten kann. Seit ich tot bin, zählt das Morgen oder das Gestern nicht mehr. Es ist beides ein und dasselbe. Ich kann dir sagen was morgen, oder in dreißig Jahren sein wird. Natürlich wäre es langweilig, wenn du es nicht erleben würdest, nicht wahr? Aber eines kann ich dir sagen: Noch ist deine Zeit nicht um. Auch wenn du dir besser wünschen solltest, dass sei es wäre.", erwiderte sie. Schweigen breitete sich zwischen uns aus.
Ach ja, dachte ich mir, dass hatte ich vollkommen vergessen. Auch für Second spielte Zeit gar keine Rolle. Das tat sie nur für die Lebenden. Er war fast allmächtig, und doch hatte er Einschränkungen. Einschränkungen wie seine Entfernungsbegrenzung zu mir, oder wen er übernehmen konnte. Manche Menschen hatten einen natürlichen Schutz, den Second nicht überwinden konnte, diese kann er demnach auch nicht übernehmen. Es gab sogar bestimmte Dinge, welche er nicht bewegen konnte – das konnte unter Umständen sogar ein einfacher Bleistift sein –, wieso wusste ich nicht.
Langsam nahm ich eine der Pillen in die eine und das Wasserglas in die andere Hand. Dann schluckte ich die Pille und das Wasser gemeinsam.
„Ich weiß schon, weshalb du die am meisten begehrteste Nummer bist. Na klar, Nummer 39 und 17 sind auch ein richtiger Erfolg geworden, aber du bis der mit den größten Kräften.", sagte Naomi. Melancholie schwang in ihrer Stimme mit und ihre Augen musterten mich eindringlich.
„Du meinst wohl eher Second ist stark ... Ich hab kaum was damit zu tun.", gab ich mit einem bitterem Geschmack im Mund zurück. Mein Blick wanderte zu dem Fleck an meiner rechten Hüfte, welcher wieder zu kribbeln begann.
„Ach Aiden, rein die Tatsache, dass du mich und die anderen siehst ist doch Beweis genug. Second ist stark, ja, aber er bezieht seine Stärke von dir, und wenn du wüsstest, was sich in Wirklichkeit hinter ihm verbirgt...", sie brach ab. Jetzt hatte sie mein Interesse geweckt. Ich wusste fast gar nichts über ihn. Das hatte ich schon immer als störend empfunden.
„Du weißt etwas über Second, dass ich nicht weiß, hab ich das richtig verstanden...?", auf einmal wurde ich unheimlich ruhig.
Sie schwieg eine Weile. Anscheinend dachte sie über ihre nächsten Worte gründlich nach, „Weißt du Aiden, es gibt Geheimnisse, die nie gelüftet werde und das hier sollte so eines sein, auch wenn es nicht unentdeckt bleiben wird. Du weißt, ich hasse Spoiler, und das ist der Grund dafür, weshalb ich nicht weiter in die Zukunft geblickt habe. Aber eine Sache will ich dir noch mitgeben, wegen letzter Nacht, du tust mir schon wirklich leid und ich leibe schlechte Komödien, und das hier wird eine der besonders schlechten Art ... also: Du solltest mit Second trainieren, ihr werdet es brauchen."
„Trainieren?"
„Jap, du weißt schon, die Bindung stärken, eure Teamfähigkeiten trainieren und so was halt. Ach ja, und könntest du Lina bitte sagen, dass es mir wirklich leid tut? Denn das mit der Freundschaft, war nicht gelogen...", bei ihrem letzten Satz, konnte ich merken, wie schwer es ihr fiel die Fassung zu wahren. Ich nickte. „Ach, und noch was Aiden: Second war nie weg. Er würde dich nie freiwillig verlassen.", während sie sprach deutete sie über mich, anschließend verblasste sie. Eine Welle der Erleichterung ergriff mich, aber spüren konnte ich ihn immer noch nicht. Hatte sie gelogen? Innerlich versprach ich mir selbst nie wieder so viel Alkohol zu trinken, da es anscheinend auch Auswirkung auf meine Verbindung zu Second hatte. Schwere Trauer setzte sich irgendwo in der Nähe meines Herzens an.
Das war das dritte Mal, dass ich sie nach ihrem Tod gesehen habe. Sie kam gelegentlich vorbei, wenn ihr wirklich langweilig war. Immerhin war ich der einzige, der Gestalten wie ihr Aufmerksamkeit schenkte, beziehungsweise sie überhaupt wahrnahm. Manche waren irregeworden und mache suchten nach jemanden, an dem sie sich festhalten konnten...
Ich musste an Second denken. Er konnte kein Verstorbener sein. Alle anderen sah ich teilweise ihn ihrer ursprünglich menschlichen Gestalt – der Rest waren die schwarzen, unheimlichen Geister – nur ihn hatte ich noch nie gesehen. Das war für mich der Beweis, dass er kein Toter war.
Mit schweren Gliedern legte ich mich erneut ins Bett. Das Gespräch hatte gereicht, um mich vollkommen auszulaugen. Langsam schloss ich die Augen. Die Bettwäsche würde ich später wechseln.
Nein, Second war kein Mensch gewesen, zumindest war ich davon überzeugt. Das Wort Gespenst hasste ich. Es klang so kindlich und niedlich, deswegen verwendete ich es nicht mehr... Ich musste an meinen Bruder denken, welcher nur dieses Wort dafür verwendet hatte, auch wenn er die Schreckgestalten nie hatte sehen können.
Als letztes wünschte ich mir noch, dass Second zurück an meine Seite kehrte. Dann entspannte ich mich und glitt in einen seichten Schlaf.
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Hidden - Insidious Friend (Creepypasta FF)
FanfictionIch konnte ihre Blicke in meinem Rücken spüren. Wie sie nach etwas lechzen, und doch nicht wussten, wonach sie greifen sollten. Gründe, mich mobben zu können, gab es genug. Doch es traute sich niemand. Sie hatten alle Angst. Das konnte ich in der Sp...