Vorsichtig nahm ich die Tasse, welche ich gerade erst gewaschen hatte und legte ein Teesackerl hinein. Ein Tee, der ‚Herzkirsche' hieß. Klang bescheuert, schmeckt aber gut. Heute brauchte ich den leicht säuerlichen Geschmack, auch wenn ich diesen meist mit Zucker untergrub. Geduldig goss ich das geradeeben heißgewordene Wasser in die Tasse. Eine kurze Weile beobachtete ich, wie die dunkelrote Farbe des Tees sich im Wasser ausbreitete, dann nahm ich die Tasse und setzte mich an den Esstisch.
Evelyn hatte gekocht, auch wenn ich kaum was, bis gar nichts davon essen werde, roch es herrlich. Gebratene Eier mit Speck. Toast. Marmelade. Kaffee und noch ein zwei Sachen. So groß hatte ich nicht mehr seit dem letzten freien Wochenende mit Nora gefrühstückt. Ich schüttelte den Kopf und hoffte so, ein paar der unangenehmen Gedanken loswerden zu können. Wenn ich mich an Personen klammere, welche nicht mehr da sind, würde es mir nur schaden.
Als ich mich setzte, betrat Jeff gerade den Raum. Er sah aus, als wäre er von einem Zug überrollt worden. Seine Haare schienen unzähmbar und sein verschlafener Blick wäre Gold wert gewesen, die Kleidung vom Schlaf verknittert und der Abdruck eines Kissens prangte in einem leichten Rotton an seinem Hals. Ich unterdrückte ein Lachen, nicht so aber Evelyn, die lauthals losprustete. Ärger trat auf das Gesicht des Schwarzhaarigen, doch er hielt den Mund.
„Morgen. Sieht aus, als wäre die Nacht mit dem Kissen wild gewesen.", grüßte die junge Frau nachträglich. Jeff brummte etwas Unverständliches und setzte sich, zu meinem Missfallen, genau neben mich, andererseits, in diesem Zustand erinnerte er mich mit seinen Narben eher an einen Clown, als an einen Killer. Professionell ignorierte ich seine Verfassung und konzentrierte mich wieder auf meinen Tee. Ansonsten verlief das Frühstück eher unspektakulär.
Bevor ich jedoch wieder nach oben ging, wandte ich mich noch einmal an Jeff ohne mich dabei umzudrehen. „Ach ja, und wenn du noch einmal vorhast ungebeten in mein Zimmer zukommen, dann kann ich wenigstens von dir erwarten, dass du dich vorher duschst." Mit diesen Worten verließ ich den Raum und ging zurück in mein Zimmer. Da ich nicht vor hatte heute rauszugehen, sah ich auch keinen Sinn darin mich umzuziehen. Duschen musste ich trotzdem, doch dieses Mal beeilte ich mich, denn ich hatte noch ein paar Dinge zu erledigen.
Als ich wieder in meinem Zimmer war, fuhr ich als erstes meinen Computer hoch. Aber bevor dieser noch glücklich, über seine überfällige Wiederverwendung, aufleuchtete, kam mir eine andere Idee. Ich schnappte mir Block und Stift und ging in mein Lieblingszimmer. Dort setzte ich mich dann auf den Boden und begann alles aufzuschreiben, was ich wusste, beziehungsweise, was ich erlebt hatte. Und wenn ich das sage, dann mein ich auch wirklich alles! Doch als ich bei meinem Vater ankam, über welchen ich durchaus etwas dort unten erfahren hatte, stockte ich. Das musste ich Jackson ja auch noch mitteilen, das war meine Pflicht als Bruder. In einem kurzen Brief, welchen ich dann Jeff mitgeben würde – er holte ein paar Sachen aus seinem Zimmer in der WG –, erinnerte ich Jackson an unseren Vater. Erzählte ihm, wie, nach Jacksons geglaubtem Tod, die Familie zerbrach, mein Vater mich mitnahm und ich im Labor landete. Doch von da an, konnte ich nur mehr aus den Berichten erzählen, denn eines Tages, nachdem Lina, Evelyn und ich auf eine seltsame Art und Weise – an die ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnerte – da herauskamen, war etwas geschehen, das meine Sicht auf unseren Vater veränderte. In besagtem Bericht stand, dass er es war, der für unsere „Flucht" verantwortlich war. Er war nicht mit den Experimenten einverstanden gewesen und nachdem ich einen Zusammenbruch erlitten hatte, welcher mich für eine ganze Woche lahmlegte, hatte er die Flucht geplant. Als man schließlich dahintergekommen war, hatte Dr. Spin ihn höchstpersönlich exekutiert.
Nachdem ich den Brief fertig geschrieben hatte starrte ich aus der großen Glaswand und beobachtete die Blätter der Bäume, welche im Wind tanzten. Irgendwann schaffte ich es mich loszureißen. Tief Luftholend, erhob ich mich, nahm den Brief und ging zu, momentan, Jeffs Zimmer. Vor der geschlossenen Tür, blieb ich stehen. Gut war die Idee nicht, aber ich wollte weder meinem Bruder persönlich begegnen, noch Evelyn losschicken. Abgesehen davon war ich im Moment zu faul.
Bevor ich an der Tür klopfen konnte, öffnete sie sich und Jeff blickte auf mich herab. Ein wenig überrascht, trat ich einen Schritt zurück. Wie schaffte er das bloß immer? Woher wusste er nur immer, wenn ich vor der Tür stand? Er macht ja mit Sicherheit nicht alle paar Minuten die Tür auf um nachzusehen, auch wenn mich der Gedanke daran, wie er es tun würde, amüsierte. Jeffs kühl blitzende Augen musterten mich. Ich hatte das Gefühl das er mir unter meine Haut blicken konnte. Das war unangenehm. Mit einem Mal wurde ich unsicher und eine leise Stimme in meinem Hinterkopf wisperte mir zu, dass er es wusste. Das machte die Situation nicht gerade erträglicher. Ich blickte beiseite und fragte schließlich, „Kannst du mir einen Gefallen tun und das meinem Bruder geben?" Ich hielt den gefalteten Brief hoch.
Jeff schien wie eine Statue. Nein, warte, eine Statue war lebendiger. Nach einer langen Weile, nahm er mir den Brief ab und meinte mit einer Stimme, die mir einen Schauer über den Rücken laufen ließ, „Dafür schuldest du mir was..." Etwas leiser fügte er noch ein, „Und ich weiß auch schon was...", hinzu, während er die Tür wieder schloss. Ich musste schlucken. Er hatte mit Sicherheit gewusst, dass ich das noch gehört habe. Er wollte es wahrscheinlich sogar und um ehrlich zu sein war es auch genau das, was mich störte. Das war die Art, wie er mit anderen nun mal umging. Auf einmal ein wenig Steif, wanderte ich in mein Lieblingszimmer zurück, in welchem in dann anfing eine handgeschriebene Mail an meine Mutter zu verfassen. Von Vaters tragischem Schicksal würde ich ihr nicht erzählen. Besser sie schimpft über ihn, als dass sie um ihn trauert. Außerdem erzählte ich ihr, dass ich einen, neuen „Babysitterin" gefunden hatte, welche mir durchaus kompetent erschiene – zumindest größtenteils.
Als ich mit dem Text zufrieden war, ging ich zurück in mein Zimmer und tippte ihn ab. Mir war gar nicht aufgefallen, wie viel Zeit vergangen war. Zumindest nicht, bis Jeff auf einmal wie aus dem Nichts – echt, das sollte er sich abgewöhnen – hinter mir stand und sich an meinem Drehstuhl abstützte. Ich zuckte zusammen und zog den Kopf ein als ich ihn bemerkte. Einen Aufschrei konnte ich nur mit Mühe unterdrücken. „Was zum Teufel sollte das?" Ich versuchte meine Stimme nach bestem Willen so kalt wie möglich klingen zu lassen und es gelang mir auch irgendwie.
„Nach dir sehen ... ach, und dein Bruder bedankt sich...", murmelte Jeff, während er mit den Augen die Textzeilen meiner Mail las.
„Du weißt schon, dass man fremde Mails nicht lesen darf ... Das nennt sich Briefgeheimnis und ist sogar strafbar.", meinte ich und tippte weiter.
„Ach was! Wie wenn mich das stören würde. Die kleine Straftat fällt zwischen den anderen gar nicht auf. Mal abgesehen davon, woher zum Teufel weißt du das? Am Ende interessiert's doch eh keinen..." Ich verdrehte nur die Augen und ignorierte ihn solange, bis ich fertig war.
Wie von einer plötzlichen Eingebung gesteuert, nahm Jeff mir die Maus aus der Hand, klickte in den Text und veränderte etwas. Dann sendete er prompt, ohne auch nur auf meine Proteste zu reagieren, die Mail ab. Perplex starrte ich auf das kleine „Mail gesendet!"-Zeichen am oberen Rand. Für ein paar Sekunden war es totenstill im Raum. Ferngesteuert dirigierte ich den Mauszeiger auf das kleine Feldchen „Gesendet" und schaute mir die Mail noch einmal an. Er hatte nichts wirklich Dramatisches daran verändert ... nur stand jetzt anstatt „einen neuen ‚Babysitter'", „zwei neue Babysitter". Mal abgesehen davon, dass er die Ausrufezeichen weggelöscht hatte, war die Änderung nichts gewesen, was mich – überraschenderweise – wirklich gestört hätte.
Von mir selbst ein wenig verwirrt, lehnte ich mich zurück. Jeff beugte sich so tief zu mir herab, bis ich seine Lippen leicht an meinem Ohr spüren konnte. „Gewöhn dich lieber daran.", schnurrte er schon fast. Er klang wie ein verwöhntes Kätzchen. Ein unheimliches, verzogenes, verwöhntes Kätzchen. Dann verschwand er so lautlos wie er gekommen war und ließ mich mit meinen Gedanken allein.
Jahre danach, wirkt das, was damals geschah wie ein harmloser Scherz ... wenn es nur dabei geblieben wäre...
___
So Menschen, das wäre es mal wieder gewesen, zumindest von meiner Seite. Ich glaube nicht, dass ich noch einen Epilog dranhängen werde – irgendwie, finde ich, dass es das Ende zerstören würde ...
Auf jeden Fall danke fürs Dranbleiben und noch eine schöne Zeit.
Liebe Grüße,
ZeroHopes
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Hidden - Insidious Friend (Creepypasta FF)
FanfictionIch konnte ihre Blicke in meinem Rücken spüren. Wie sie nach etwas lechzen, und doch nicht wussten, wonach sie greifen sollten. Gründe, mich mobben zu können, gab es genug. Doch es traute sich niemand. Sie hatten alle Angst. Das konnte ich in der Sp...