25.

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Rückblickend betrachtet, war es gut, dass Lina mir nicht erzählt hat, was dort drinnen mit Mino geschah. Wer weiß, was ich getan hätte, wenn ich es gewusst hätte. Heute bewundere ich sie für ihre Standfestigkeit und die Entschlossenheit, mit der sie ihre Entscheidungen fällt. Doch damals, hasste ich Lina sogar für einen kurzen Augenblick...

"Er ist mein Bruder, ich habe das Recht zu erfahren, was mit ihm ist!" Meine Stimme hallte laut durch das Wohnzimmer. Ein Monat war nun schon vergangen, ohne, dass irgendetwas geschah, oder unternommen wurde. Und das pisste mich an. "Wir tun nichts, während mein Bruder dort drinnen versauert! Was soll der Scheiß?"

"Beruhig dich. Es wird dich auch nicht weiterbringen, wenn du hier so rumbrüllst...", warf Bloodie Painter ein, welcher seit einer guten halben Stunde wieder in der WG war. Sein Trip nach Venedig hatte ein abruptes Ende genommen, als die Polizei von zwei seltsamen Personen namens Beff und Jen einen anonymen Tipp bekam, dass Bloodie sich dort aufhielt. Kurze Zeit danach war ganz Venedig von der Polizei- und Beamtenplage befallen worden. Es wurde zu gefährlich und Bloodie Painter kam früher zurück als erwartet. Jetzt saß er auf der Couch neben Jeff, welcher meine Rage geradezu genoss, und kritzelte wieder einmal in seinem Block herum. Für einen Moment war nur das Kratzen von Miene auf Papier zu hören.

Ich konnte verstehen, dass ihn dieses Geräusch wahrscheinlich beruhigte ... mich machte es wahnsinnig. Wütend ballte ich die Hände zu Fäusten und blickte ihn an. Ein Streit mit ihm hatte keinen Sinn. Er war zu relaxed und geduldig. Eine Sache die er mit Eyeless teilte. Eine sehr nervige Sache. Meine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Im Moment hätte diese beschissene Welt untergehen können und alles, woran ich dachte, war Streit. Ich wollte streiten. Doch Jeff war zu gefährlich dafür. Ich bin gut, aber nicht so gut, als das ich mich mit ihm anlegen konnte. Das wäre reiner Suizid.

Bevor ich etwas tat, was ich bereuen würde, ging die Tür auf und Lina betrat mit Eyeless Jack im Schlepptau den Raum. Auch wenn sie nun schon eine geraume Zeit hier lebte, durfte sie nicht ohne Begleitung im Haus herumschleichen. Die Gefahr, dass sie jemand mit eine Eindringling oder einem Opfer verwechselte, war zu groß - wobei letzteres eher selten vorkommt. Meiner Wut setzte ich einen Dämpfer vor und merkte, wie sich Ungeduld in mir bereitmachte.

"Und?", schoss es aus mir heraus. "Irgendwas, womit wir was anfangen können, oder blockst du mich wieder ab?" Meine Stimme hatte einen gereizten Klang und etwas ... Feindseliges schwang in ihr mit. Lina war das mit Sicherheit nicht entgangen. Doch sie ließ sich nicht drauf ein. Sie würde nicht streiten. Warum auch?

"Beruhig dich, Jackson. Wenn sie was hat, wird sie es schon sagen. Durch Ungeduld entstehen schließlich keine Kunstwerke.", mahnte Bloodie Painter. Mit einem leisen Nicken, stimmte Jack seinem Kollegen zu. Das führte jedoch nur dazu, dass mich ein Blitz aus Abscheu für einen Moment durchzuckte. Lina sagte nichts und ich fing mich wieder. Das waren keine Leute, oder eher Wesen, mit denen ich mich anlegen sollte. Davor hatte die Proxy mich eingehend gewarnt. "Sein nicht zu übermütig.", hörte ich Maskies Stimme in meinem Hinterkopf. "Sie sind in jeder Hinsicht anders als deine bisherigen Partner." Hatte Hoodie ergänzt.

Mit einem tiefen Atemzug schluckte ich meine Wut und einen Teil meines Stolzes herunter. Doch bevor wir uns dem Thema "Nummern" weiterhin widmeten, stelle Jack seinem Kollegen seine neue Freundin vor. Höflich begrüßten sich die zwei. Als Bloodie Painter ihr jedoch ein Kompliment zu ihrer Schönheit machte, legte Jack den Kopf gefährlich schief. Damit war die kurze Vorstellrunde auch schon wieder beendet. Schweigend setzten sich die zwei Neuankömmlinge. Einige Sekunden verstrichen, ohne, dass irgendjemand ein Wort sagte.

Inmitten der Stille kehrten meine Gedanken zu der Wiese zurück. Es hatte so still gewirkt, dass man sich nur schwer vorstellen konnte, was sich dort unter der Erde wirklich abspielte. Bereits mehr als nur einmal hatte ich mit dem Gedanken gespielt alleine unbemerkt dort einzudringen und ungesehen wieder mit meinem Bruder zu verschwinden. In meinem Kopf hörte sich das alles so leicht an. Doch Tatsache war, dass ich keine Ahnung hatte, was mich dort unten erwartete.

"Es wird Zeit, dass wir Aiden da rausholen." Die Worte rissen mich aus meinen Gedanken. "Er war schon viel zu lange dort. Doch früher gehen, wäre reiner Selbstmord gewesen." Für einen Moment hingen die Worte schwer in der Luft. Erst jetzt merkte ich, dass Lina es war, die gesprochen hatte. Alle schwiegen. Geduldig schlug Lina ein Bein über das andere.
Zu, wahrscheinlich unser aller Überraschung, war Jeff der erste, der sich rührte. "Ich ruf mal den Rest zusammen..." Schwer erhob er sich und zog sein Handy aus der Bauchtasche seines Hoodies. Sich die Ärmel hochkrempelnd und das Handy zwischen und der Schulter eingeklemmt, verließ er den Raum.

Nun waren wir zu viert. Schweigend betrachtete ich Lina für eine Weile. Sie sah besser aus, seit sie mit Jack zusammen war. Seit ich sie kennengelernt habe. Das kleine, dürre, blasse Mädchen hatte ein wenig Farbe bekommen und sah nun auch körperlich wieder gesund aus. Die Rundungen waren da, wo sie hingehörten, immerhin konnte ich mir nicht vorstellen, dass es angenehm war, wenn du bei fast jeder Berührung nur Knochen spürst. So gesehen, hat Jack ihr gutgetan. Ein dünnes Lächeln drängte sich auf meine Züge. Ein Mörder, der einem Mädchen guttut. Was für eine Ironie.

Ich wünschte ich hätte für Mino da sein können, flüsterte eine Leise Stimme in meinem Hinterkopf. Ein dünner Schmerz zog sich durch meine Brust. All die Jahre hatte ich es geschafft Mino halbwegs aus meinen zu verdrängen, doch seit ich erfahren habe, dass er ebenfalls zu dieser Nummerngeschichte dazugehörte, konnte ich kaum mehr schlafen, ohne mir vorzustellen, wie ihm irgendetwas Schlimmes geschah.

Es dauerte eine grobe Stunde, bis sich alle im Wohnzimmer versammelt hatten. Der Letzte der den Raum betrat, war Ben, der sich für einen recht spektakulären, aber ekelhaften, Auftritt durch Jeffs Handy entschied. Nun waren alle versammelt. Zu meinem Erstaunen befanden sich ebenfalls ein paar eher ungern gesehen Gäste in der WG. Gespannt beobachtete ich, wie sich die schwarzhaarige Jane zwischen Eyeless Jack und Masky hindurchschlich um Jeff auszuweichen.  Dicht hinter ihr die kleine Sally. Vor einer halben Stunde hatte es zwischen Jeff und Jane wieder gehörig gekracht. Dieses Mal war es sogar so weit gekommen, dass Slenderman persönlich hatte eingreifen müssen. Am Ende hatte Jeff eine Stichwunde an der rechten Seite. Im Gegenzug war Janes Handgelenk gebrochen und eine lange, hässliche Wunde zog sich von ihrem Knie, über den Bauch, wo sie dann schließlich an der Schulter endete.

Für eine Weile betrachtete ich den Verband um den Oberschenkel der Schwarzhaarigen. Dann wanderte mein Blick zu Jeff, welcher nicht, wie sonst üblich saß, sondern an der Wand lehnte. Er schien nicht gerade bei bester Laune zu sein. Tja, das ganze hatte fast eine Stunde gedauert. Und am Ende war nicht nur die Proxy, für die zusätzliche Arbeit, sauer. Eyeless Jack welcher die beiden anschließend behandelte, wirkte nicht mehr ganz so locker, wie vorher. Den unmenschlichen Schrei, hatte man bis ins Wohnzimmer gehört. Danach waren Jeff und Jane leise gewesen. Einmal mehr ertappte ich mich dabei, wie ich mir dachte, dass Jack eigentlich das unmenschlichste Monster von allen war. So harmlos er auch wirkte, was er da in seinem Keller, und auf seinen nächtlichen Ausflügen trieb, wollte ich gar nicht wissen.

Die Besprechung zog sich über drei Stunden hinweg. Die Stunden in denen Eyeless an die Grenzen seine Menschlichkeit getrieben wurde - persönlich glaub ich ja, dass Lina der Grund für sein durchhalten war - und mindestens fünfzig Mal wurden Jeff und Jane ermahnt. Irgendwann mitten in der Diskussion entschuldigte sich Eyeless und verließ den Raum. Seit wann nahm er denn Anrufe entgegen? Und wer, außer Lina besaß überhaupt seine Nummer? Gedanklich nun bei ihm, erinnerte ich mich an eine Geruch, dass einmal in der Untergruppe - für alle, dies immer noch nicht raus habe: die Untergruppe der Proxy, zu der ich auch gehöre - gehört habe: Jack soll einen ganz speziellen "Kontakt" haben. Eine Person von außen. Wer das war, wusste keiner. Man wusste nicht einmal, ob das Gerücht stimmte. Was mir jedoch aufgefallen ist, war, dass Jack in letzter Zeit unheimlich oft Telefonierte.

Am Ende der Besprechung waren zwei Sache fix beschlossen: Erstens, wir würden meinen Bruder dort rausholen, morgen noch und zweitens, wer alles mitkommt. Das Team besteht aus Lina, Jeff, Ben, Sally, Jane, der Proxy und mir. Eyeless Jack war nicht dabei. Dieser meinte, dass er noch ein paar andere, mindestens ebenso wichtige Dinge zu tun hatte. Linas Schutz überließ er der Proxy und mir - was für ihn eigentlich außerordentlich ungewöhnlich war.

Was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten, war wie das alles enden würde...

Hidden - Insidious Friend (Creepypasta FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt