Kapitel 1

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Versengold - Luna's Reel

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„Und deshalb sollten wir unsere Patrouille weder verstärken noch verringern [...]", schlussfolgerte Castiels Vater, der Alpha seines eigenen kleinen Rudels.

Castiel stand währenddessen etwas abseits vom Tisch, wippte unruhig mit dem Fuß, versuchte ein Seufzen zu unterdrücken und betete, sein Vater würde die Versammlung endlich beenden. Aus Erfahrung wusste er, dass es bald so weit sein würde. Und tatsächlich wurde sein Gebet erhört. Sein Vater führte die flache Hand zum Herzen und beugte im traditionellen Gruß des Rudels den Kopf. Das Rudel tat es ihm gleich und die Werwölfe begannen, sich zu zerstreuen. Auch Castiel lockerte seine starre Haltung, seit fast zwei Stunden hatte er nun schon so gestanden und seine Muskeln schrien nach Bewegung. Zusätzlich machte ihn das Licht des aufgehenden Vollmondes rastlos, also gab er seinem Vater per Handzeichen Bescheid, dass er vor der Rückkehr nach Hause eine größere Runde drehen würde.

Castiel entledigte sich seiner Kleidung, räumte sie in das dafür vorgesehen Fach in der ehemaligen Scheune, die sie für Versammlungen nutzten, und machte sich nur unerheblich später in gewandelter Form auf den Weg in den Wald. Es war eine ungemeine Befreiung, seine Glieder nach der langen Starre wieder in Bewegung zu setzen und nach dem geistig ermüdenden Zuhören endlich die überschüssige körperliche Energie loszuwerden. Im leichten Lauf trabte er durch den Wald und genoss den kühlen Wind in seinem Fell. Gerade jetzt, bei Vollmond, zog es seinen inneren Wolf, seine tierischen Instinkte, näher an die Oberfläche und ihnen jetzt so nachzugeben tat gut.

Seine Schritte trugen ihn ohne groß Nachdenken in eine Richtung und er wurde immer unaufmerksamer. Wie unbedacht er gewesen war, wurde ihm erst klar, als er mit dem Hinterlauf durch den Boden brach und in einer Erdspalte stecken blieb. Er konnte ein kurzes Winseln vor Überraschung und Schmerz nicht unterdrücken. Zappelnd versucht er, sich frei zu kämpfen, doch vergeblich. Allein würde er es nicht schaffen.

Er sah sich um. Vielleicht hätte er die Chance ein Rudelmitglied über ein Heulen zu sich zu führen, doch was er erkannte, ließ ihm das Herz noch mehr in die Hose rutschen. Der Wald war ihm unbekannt. Dies war nicht sein Gebiet, nicht das Gebiet des Rudels seines Vaters. Innerlich verzweifelt fluchte er. Würde man ihn hier, auf dem Gebiet eines anderen Rudels finden, würde es mächtig Ärger geben. Hektisch sah er sich um, konnte aber nichts Genaueres erkenne, nichts sehen, was ihm helfen könnte, aber zum Glück auch niemanden, der ihm in seiner wehrlosen Situation gefährlich werden könnte.

Er atmete flach, versuchte keinen Laut von sich zu geben, um nicht entdeckt zu werden. Ein leises Knacken ließ Castiel zusammenfahren. Seine Nase erfasste den Geruch eines anderen Wolfes. Panisch warf er den Kopf herum und entdeckte tatsächlich ein Tier mit braunem Fell nur wenige Schritte von sich entfernt. Castiel erstarrte. Die Furcht lähmte ihn. Er war sich nicht sicher, was nun passieren würde und er war nicht sicher, ob er es überhaupt herausfinden wollte. Doch zu Castiels großer Überraschung war das erste was passierte, dass der Fremde sich verwandelte.

Vor seinen Augen wurde aus dem wilden Tier ein Mann mit schokoladenbraunen Haaren, der sich ihm näherte. Castiel knurrte. Das Tier in ihm herrschte vor und wollte nicht berührt werde, wollte keine Nähe, doch der Fremde störte sich nicht daran. Ganz davon abgesehen blickte der Fremde nicht sonderlich freundlich drein.

Beständig kam er näher, verharrte erst wieder, kurz bevor seine Finger den Braun befellten Hinterlauf berührten, sah, als würde er Bestätigung erwarten, zu Castiel auf und als ihre Blicke sich trafen, durchfuhr es Castiel wie ein Blitz. Pure, rote Energie jagte durch seine Adern. Er konnte sein Gegenüber nur mit schockgeweiteten Augen anstarren, während das passierte, von dem er gehofft hatte, es würde nie passieren. Die heiße Energie sammelte sich, fügte sich zusammen, um auf seinem linken Schulterblatt ein unabwendbares Zeichen zu bilden, einen unbrechbaren Bund zu besiegeln.

Seine Sinne schienen sich auf den Fremden zu fokussieren. Er schmeckte seinen Duft auf der Zunge, konnte das leichte Zittern, das diesen durchfuhr, fast auf der eigenen Haut spüren. Sich zu bewegen, kam ihm unmöglich vor. Die Zeit schien wie eingefroren. Dem Fremden machte es weniger aus. Er erholte sich schneller. Weniger vorsichtig, vielmehr sanft streckte er die Hände aus und befreite mit geschickten Fingern den Hinterlauf.

Castiel war frei. Diese Freiheit war es, die in seinem Inneren eine Schranke brechen ließ und somit prasselte alles auf ihn ein. Die Zeit lief wieder und Castiel geriet in Panik. Hin und her gerissen zwischen seinem wölfischen Instinkt, der nichts anderes wollte als zu dem Fremden hin, und seinem menschlichen Verstand, der wusste, dass das ganz und gar keine Option war. Was genau ihn dazu bewegte, wusste Castiel nicht, aber er rannte fort. Vielleicht war es die Tatsache, dass er sich auf feindlichem Gebiet befand, vielleicht die Angst vor seinem Vater und seinem Rudel, die stark, so stark war. Vielleicht war es auch schlicht die Überforderung, die ihn zur Flucht vor der Situation, seiner Welt, brachte.

Castiel rannte. Er überquerte nur Minuten später die Grenze seines Rudelgebietes, ohne es überhaupt zu merken und nach kaum einer halben Stunde stand er hektisch atmend und abgekämpft vor dem Haus, in dem er mit seiner Familie lebte. Erst jetzt fiel ihm sein Schmerz wieder ein und sofort begann sein Bein zu pochen. Aus Erfahrung wusste er, dass dies aber bald vorbei sein würde. Als Werwolf heilte er anders als die Menschen. Wie ferngesteuert wandelte er sich, betrat das Haus, stieg die Treppe hinauf ins Obergeschoss, nahm eine kurze kalte Dusche und trat dann in sein Zimmer.

Verloren stand er dort und sofort kämpften sich die Geschehnisse des Abends wieder in ihm hinauf an die Oberfläche, von der er sie verdrängt hatte. Wieder machte sich das kalte Gefühl der Angst in ihm breit. Es war das Geschehen, von dem er hoffte, gehofft hatte, es würde niemals passieren.

Er hatte seinen Gefährten gefunden. Seinen Gefährten. Nicht seine Gefährtin. Keine hübsche, große, schlanke Frau. Einen Mann. Einen Mann mit schokobraunen Haaren und moosgrünen Augen. Mit einer kleinen Narbe am Knöchel, einer größeren an den Rippen und einer im Genick, von der er sich automatisch wünschte, sie erkunden zu können, ihre Geschichte zu erfahren. Ein Mann mit dichten dunklen Wimpern und einer sonnenwarmen Hautfarbe. Ein Mann mit rauen Fingern, der sanfte Berührungen schenken konnte. Ein Mann, dessen Geruch nach Wald und doch nicht nur nach Wald unverkennbar einzigartig war. Ein Mann, ein echter Mann. Keine Frau.

Sein Vater würde ihn dafür umbringen. Nicht einfach umbringen. Hängen, ausweiden und postmortem vierteilen um seine Einzelteile in Form eines Windspiels vor dem Rudeltreffpunkt als Mahnmal aufzuhängen. Castiel sank auf sein Bett nieder, stützte das Gesicht in die Hände.

Irgendwo ganz tief in seinem Inneren hatte er es geahnt, aber verdrängt. Er wollte das nicht. Er wollte seinem Vater gefallen, ihn stolz machen. Er wollte seinem Rudel ein guter zukünftiger Alpha sein. Sobald er seine Gefährtin gefunden hätte, hätte er es übernehmen sollen. Aber nun? Die Gefährten waren verbunden über ein Zeichen, das sich bei ihrer ersten Begegnung in ihre Haut einbrannte. Es war ihr Zeichen und einzig und allein diese zwei Gefährten hatten eines, das sich bis ins kleinste Detail genau entsprach. Er würde niemandem etwas vorspielen können und dabei würde er doch für die nächste Generation sorgen müssen, für die Zukunft des Rudels. Es lag alles in seinen Händen. Aber das, dieses Trauerspiel, würde sein Vater nicht tolerieren.

Dabei hatte sich Castiel so viel Mühe gegeben der perfekte Alpha zu sein, der Sohn, den sich sein Vater wünschte. Doch nun war alles für die Katz. Alles vorbei. Er hatte keine Zukunft mehr. Tiefe Verzweiflung ergriff ihn. Er sah keine Zukunft mehr.

Platt ließ er sich rücklings fallen. Er war erschöpft. Erschöpft von den Ereignissen der Nacht. Es war ihm zu viel, viel zu viel. Er wollte vergessen. Er wollte seine Ruhe zurück. Er wollte schlafen, für die nächsten paar Stunden abdriften in die tiefe Schwärze, in der er von den Sorgen seines Seins unberührt blieb. Also rollte er sich über der Bettdecke zusammen und versank abgekämpft von seiner überstürzten Flucht schon bald in einem traumlosen Schlaf.

WolfssorgenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt