Kapitel 2

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Korpiklaan - Ukon Wacka

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Mit angespannten Muskeln hockte Sasha auf den mit Flechten bewachsenen Felsen. Die Augen fest geschlossen, konzentrierte er sich vollkommen auf seine restlichen Sinne. Nichts war nun in der Lage, ihn von der Jagd abzuhalten. Er spürte den Wind, der durch sein Fell strich, hörte die Blätter der Bäume flüstern und die Vögel in den Wipfeln singen. Ein Rascheln und das Krachen von kleinen Zweigen wehten zu ihm hinüber und er konnte das Schnauben der Hirsche im Unterholz hören. Er öffnete die Augen, sprang hinab und landete fast lautlos am Boden. Mit federnden Schritten lief er durch den Wald, immer darauf bedacht, so wenige Geräusche zu verursachen wie möglich, um seine Beute nicht vorzeitig aufzuscheuchen. Geschmeidig glitt Sasha durch das Dickicht, duckte sich unter tief hängenden Ästen hindurch und richtete alle seine Sinne wie in Trance fest auf sein Ziel. Das Anschleichen und der Angriff der Herden bedeutete jedes Mal ein großes Risiko, denn Sasha hatte ohne ein unterstützendes Rudel nur einen einzigen Versuch, um seine Beute zu erlegen.


Diese Lektion hatte er unter Einsatz seines Lebens in den ersten Jahren der Verbannung lernen müssen. Damals war er noch recht jung gewesen und mehr als einmal in der kalten Jahreszeit beinahe verhungert, weil ihm die Beute immer wieder durch die Lappen ging. Doch mit der Zeit hatte er seine Jagdtechnik perfektioniert und war Meister der Tarnung und des Anschleichens geworden.


Ein unbekannter Geruch stieg ihm in die Nase und störte seine Konzentration. Abrupt stoppte er und drehte seinen Kopf in Windrichtung. Die herbe Duftnote erinnerte ihn an Wärme und Familie. Ein Eindringling? Wäre er in seiner menschlichen Gestalt gewesen, hätte er die Stirn gerunzelt. Die Rudel wagten sich nie weiter als bis zu den Grenzen ihrer Territorien und auch sonst niemand kam in diesen abgelegenen Bereich des Waldes. Er knurrte unwillig. Wer auch immer es war, er war in sein Gebiet eingedrungen und das gehört zu den wenigen Dinge, die Sasha in keinster Weise tolerieren konnte. Kochend vor Wut über die verpatze Jagt, rannte er den Kopf gesenkt durch den Wald und folgte der Duftspur. In Gedanken zerriss er den Störenfried bereits in der Luft, als er auch schon durch ein paar Brombeerbüsche auf einer Lichtung landete. Im letzten Moment bremste er schlitternd ab und verbarg seinen Körper wieder dahinter. Erst jetzt traf ihn die gesamte, seltsam vertraute Intensität des Geruchs. Vor ihm am Boden lag ein junger Wolf. Einer seiner Hinterläufe hatte sich in einer Erdspalte verfangen und sein Körper zitterte unter den panischen Atemzügen. Immer wieder versuchte das Tier verzweifelt sich zu befreien und riss sich an den scharfen Kanten der umliegenden Steine, die Haut auf.


Mitleid mischte sich unter Sashas Wut und Erinnerungen an seine eigene Kindheit stiegen in ihm auf. Leise trat er aus den Büschen hervor und ging in einer flüssigen Bewegung, als würde er einen Mantel abstreifen, in seine menschliche Gestalt über. Sein Magen beschwerte sich rumorend über das vorherige Aussetzen des Mittagessens und sofort verdrängte die Empörung über das Eindringen des Fremden einen Teil des Mitleids wieder. Einen Moment spielte er mit dem Gedanken, sich umzudrehen und einfach wieder zu verschwinden. Doch die Erinnerungen siegten und er seufzte resigniert.


Vorsichtig und immer noch misstrauisch bewegte Sasha sich auf den Wolf zu, dieser beobachtete ihn mit panisch aufgerissenen grauen Augen. Er zuckte heftig zusammen, als Sasha neben ihm in die Hocke ging und die Hände nach seinem Bein ausstreckte. Für einen winzigen Moment traf der Blick seiner moosgrünen Augen auf die grauen des Wolfes. Er kümmerte sich nicht weiter um dessen offensichtliche Angst, sondern untersuchte vorsichtig den feststeckenden Lauf.


Kaum berührten seine Finger jedoch das nussbraune Fell, durchfuhr sengende Hitze seinen Körper und brachte sein Blut scheinbar zum Kochen. Der dumpfe Schmerz kroch hinauf zu seinem Schulterblatt, wo er verharrte und schließlich abebbte, nur um ihn in ungläubigem Staunen zurückzulassen. Als Kind hatte er von den Zeichen der Gefährten gehört, hatte aber immer angenommen, dass es nur zwischen den zwei unterschiedlichen Geschlechtern möglich war. Während er noch fieberhaft überlegte was er nun tun sollte, befreiten seine schnellen Hände bereits das Bein des jungen Wolfs. Dieser sprang zitternd auf die Füße ungeachtet seines verletzten Knöchels, der wahrscheinlich ziemlich schmerzte. Sasha öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch es war schon zu spät. Der Wolf wirbelte herum und stob davon.


"Verdammt!", seine Stimme war rau von den Jahren des Schweigens, in denen er niemanden zum Reden gehabt hatte. Er beschloss seinen "Gefährten" zu verfolgen, sobald er eine neue Beute gefunden und erlegt haben würde. Nun vollkommen entnervt drehte er sich um, nahm wieder die Gestalt des großen Wolfs an und verschwand im Gestrüpp.


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