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Drei Stunden später lag Raphael in einem hellblau geblümten Nachthemd in dem Bett von Frau Niederbachs vor neun Jahren verstorbenen Mannes und starrte Löcher in die Decke. Er konnte noch nicht mal die Decke über seinen trendigen Schlafanzug ziehen, um diese Beleidigung seines Modebewusstseins möglichst zu ignorieren, weil es direkt unter dem Dach ungefähr so stickig und warm war wie in einem südafrikanischen Bus ohne Klimaanlage. Nicht, dass Raphael jemals in einem südafrikanischen Bus ohne Klimaanlage gewesen wäre, aber es war so warm, wie er es sich in einem südafrikanischen Bus ohne Klimaanlage vorstellte.

Der Vollmond schien durch das kleine Dachfenster und brachte Raphaels modische Entgleisung zum Strahlen. Er konnte partout nicht einschlafen. Wie auch, es war gerade halb zehn, sein Schlafrhythmus lag derzeit etwa vier Stunden in der Zukunft.

Raphael schloss die Augen. Eigentlich war Einschlafen nicht mehr als ein Theaterspiel des eigenen Körpers. Man gab vor zu schlafen, bis das Gehirn daran glaubte und man wirklich schlief. Dumm nur, wenn das Gehirn besseres zu tun hatte, als bereitwillig an billige Geschichten zu glauben.

Lissas Gesicht erschien vor seinem inneren Auge. Die Rettungssanitäter hatten ihr einen Elektroschock verpasst, ihr Körper hatte gezuckt und sich von der Trage gelöst. Matthi war wie erstarrt gewesen, Raphael war sich nicht sicher, ob sich die Zwillinge an ihm oder er sich an den Zwillingen festgehalten hatte.

Er fragte sich, ob sie immer noch im Krankenhaus waren und ob Lissa es schaffen würde.

Raphael stand auf und stellte sich ans Fenster. Aus der kleinen Luke hatte man einen guten Blick. Im Nachbarhaus brannte kein Licht, kein Auto stand in der Einfahrt. Es sah immer noch so aus wie am Nachmittag. Vergeblich versuchte Raphael zum dritten Mal an diesem Abend das Fenster zu öffnen. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, wahrscheinlich war es das letzte Mal vor neun Jahren benutzt worden.

Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Nicht vor Kälte, sondern weil er dabei war, eine Nacht in dem Bett eines Verstorbenen zu verbringen. Plötzlich war er sich ziemlich sicher, dass Frau Niederbachs Mann in genau diesem Bett gestorben war. Natürlich war er das. Sonst würde sich das Zimmer nicht so verdammt eng und beklemmend anfühlen.

Raphael schluckte und räusperte er sich. Seine Kehle war staubtrocken, im wortwörtlichen Sinne. Als Frau Niederbach ihm erklärt hatte, dass sie die das Dachgeschoss seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr nutzte, hatte er nicht damit gerechnet, dass seit diesem Zeitpunkt dort auch nicht mehr gewischt worden war. Raphael hustete und Staubwölkchen tanzten im Mondlicht auf und ab.

Autoscheinwerfer glitten durch den Raum, Raphael ging schnell unter der Fensterbank in Deckung. Nicht auszudenken, wenn ihn jemand hier sehen und in dem Nachthemd erkennen würde.

Dem Licht folgte dieselbe graue Dunkelheit, das Auto war nicht stehen geblieben. Offensichtlich gehörte es nicht zu Lissas Familie.

Raphael erhob sich. Er brauchte Wasser und Luft und das dringend. Auf einmal war ihm der Gedanke unerträglich, dass er gerade, vielleicht genau in diesem Moment, dieselbe Luft einatmete, die sich in Herrn Niederbachs toten Lungen befunden hatte.

So leise wie möglich kletterte Raphael die schmale Leiter herunter und hätte sich dabei fast den Fuß gebrochen, weil er nach der letzten Treppenstufe noch eine weitere vermutete. Fluchend rieb er sich die Ferse, dann verharrte er regungslos. Er verspürte definitiv keine Lust, Frau Niederbach in der Gestalt eines blau geblümten Gespenstes unter die Augen zu treten.

Erst dann fiel ihm wieder ein, dass Frau Niederbach ihm beim Abendbrot in aller Ausführlichkeit erklärt hatte, dass sie Ohropax benutzte und es sehr bedauerte, diese wunderbare Erfindung nicht schon früher gefunden zu haben, um ihren lieben Alfred vor den tagtäglichen Umzügen ins Dachgeschoss zu bewahren. Aber man musste sein Glück ja auch nicht provozieren.

Uranus ist auch nur ein PlanetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt