Der abgelaufene Verbandskasten enthielt zusammen geschrumpelte Kastanien. Wie die da rein gekommen waren, war Rica sowie Raphael ein Rätsel, aber da man die Kastanien höchstens noch als Teil eines Druckverbandes hätte benutzen können, begnügte Raphael sich mit einer Packung gefrorenem Spinat, die er so gut es ging gegen Lippen und Nase presste. Er passte sich seiner Gesichtsform ungefähr so gut an wie ein Wackerstein.
„Mal im Ernst, Raphael. Was sollte das genau werden?"
Rica saß ihm gegenüber und kippelte auf den Barhockern herum. Bei ihr zuhause hatte sich nichts verändert, alles war wie immer, obwohl es jetzt schon Wochen her war, seitdem er das letzte Mal hier gewesen war. Ein paar der Bilderrahmen hingen schief, neben der Spüle stapelten sich vier Müslischalen. Es herrschte ein beruhigendes, zurückhaltendes und erst auf den zweiten Blick ersichtliches Chaos.
„Eigentlich sollte das gar nichts werden außer eine Busfahrt", antwortete Raphael zu Ricas Belustigung. Sie zog die Schultern hoch. „Daran bist du auf alle Fälle schon mal gescheitert." Raphael verzog das Gesicht und die Spitze des Spinatquaders bohrte sich in seinen Nasenflügel. „Ach was", sagte er und legte das provisorisches Kühlkissen ab um seine Hand zu wärmen, die inzwischen zu einem Eisklumpen mutiert war.
„Das gibt bestimmt unentschuldigte Fehlstunden." Er stöhnte auf und rieb sich mit der Hand über die Schläfen. „Und das, wo ich am Freitag schon eine Stunde...", er zögerte und sah zu Boden, „naja verpasst habe." Rica verzog die Lippen zu einem Grinsen. „Verpasst im Sinne von geschwänzt?" Ihre Augenbrauen hoben sich erstaunt. „Oh la la, was ist denn mit dem Raphael passiert den ich kenne?", fragte sie kopfschüttelnd. „Schule schwänzen, also so was." Raphael verdrehte die Augen. „Mach dich ruhig lustig, kein Problem." Anklagend deutete er auf seine Schürfwunden am Knie und seine geschwollene Unterlippe. „Ist ja nicht so, als hätte ich heute nicht schon genug abgekommen."
Rica lehnte sich vor und tätschelte ihm die Schulter. „Armer Ellie." Sie ließ sich auf ihrem Barhocker zurückkippen und klimperte feixend mit den Wimpern. „Soll ich das Desinfektionsspray holen gehen? Vielleicht habe ich auch noch ein paar alte Käpt'n Blaubär Pflaster von Vic irgendwo rumfliegen. Du weißt schon, einmal pusten, Pflaster drauf und bis zur Hochzeit ist der Schmerz vorbei."
Raphael tippte sich an die Stirn, dann schwiegen sie einige Sekunden lang. Die Tatsache, dass sie ein paar Wochen nicht miteinander geredet hatten, schwebte auf einmal wieder zwischen ihnen, machte sich breit. Er war der erste, der das Schweigen brach.
„Und was jetzt?"
Rica legte den Kopf schief. „Du bist der Weise mit der Packung Rahmspinat im Gesicht." Sie zuckte mit den Schultern, aber die Geste wirkte gezwungen und nicht so beiläufig wie sonst. Eher so, als hätte nur ihr Verstand erkannt, dass in diesem Moment ein Schulternzucken erforderlich war.
Sie zog die Wangen zwischen die Schneidezähne, kaute auf ihrer Unterlippe herum. Raphael wartete, bis sie sich dessen bewusst wurde und damit aufhörte. Den Spinat legte er zwischen ihnen auf den Tisch, sein Gesicht fühlte sich inzwischen so an wie ein halb frittiertes Fischstäbchen. Auf der einen Seite tiefgefroren, auf der anderen in brühend heißes Fett getaucht. Raphael hatte es sich nicht genauer angeschaut, auf dem einen Auge sah er immer noch verschwommen, aber seine Haut kribbelte und pochte, es war als könne er spüren wie sich die Blutergüsse sammelten.
Die einfallende Sonne wurde vor den Fensterscheiben von heruntergelassenen Jalousien parzelliert und fiel in hellen Lichtstreifen in den Raum. Die Streifen krümmten sich über Raphaels Handrücken und führten erst dann wieder in geraden Bahnen über den Tisch. Rica lächelte unsicher, es war kaum mehr als ein Zucken ihrer Mundwinkel. Ihr Blick irrte durch die Küche, suchend nach einem Fixpunkt, an dem er sich festhalten konnte.
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Uranus ist auch nur ein Planet
Roman pour AdolescentsMit einer überragenden Körpergröße von einem Meter sechsundneunzig ist das Untertauchen in der Menge Raphaels Superkraft, die er bis zur Perfektion betreibt. Nie hätte er damit gerechnet, dass sich genau das an einem gewöhnlichen Freitagnachmittag...