„Was hast du erwartet?", fragte Jonathan und reichte Raphael einen Müsliriegel. Ohne Zusatz künstlicher Aromen, dafür mit recycelter Verpackung. „Das hier ist Warnheim. Gerüchte verbreiten sich schneller als Magen-Darm." Raphael packte den Müsliriegel aus, die verklebten Körner vermischt mit einigen Nusstückchen, sahen selbst aus wie frisch aus der Toilette.
„Schmeckt besser als es aussieht", bemerkte Jonathan mit einem tadelnden Blick. „Ich gebe dir etwas von meinem Essen ab, das ist eine Ehre." Raphael lächelte halbherzig und überwand sich zu einem Bissen. „Sehr schön", kommentierte Jonathan, so als füttere er gerade ein Kleinkind. „Mhm", gab Raphael von sich, zu mehr war er nicht im Stande. Der Müsliriegel musste eine Art biologisch abbaubaren Superkleber enthalten, der seine Zähne zusammen pappen ließ.
Sie hatten das Schulgelände verlassen und schlenderten in Richtung Bushaltestelle. Jonathan sah ziemlich zufrieden aus, er grinste unentwegt und trotz seiner kurzen Beine war er Raphael einige Schritte voraus.
Er kam als erstes am verrosteten Bushaltestellenschild zum Stehen. Prüfend besah er den Fahrplan und nickte. Danach setzte er sich wie selbstverständlich auf den Bürgersteig und sah Raphael auffordernd an. Er kam seiner stummen Bitte perplex nach, immer noch vollkommen von Jonathans Wandlung überrumpelt. Heute hatte er schon so viel gesagt wie in der ganzen letzten Woche.
„Was genau war das da gerade?", sagte Raphael, nachdem er die zähe Masse des Müsliriegels runtergeschluckt hatte. Trotzdem wollte sich das Gefühl vom dicken Kloß im Hals nicht auflösen. „Das war die Jonathan'sche Kombinierungsgabe", antwortete er. „Deren Existenz erst heute entdeckt wurde." Raphael hob eine Augenbraue, sagte aber nichts. Stattdessen stellte seinen Rucksack ab und kramte nach seiner Wasserflasche. Dann ließ er sich neben Jonathan auf den Bürgersteig sinken und streckte seine Beine über die Bordsteinkante hinweg auf die Straße.
Weiter ging sein Blick nicht. Nur bis zur Straße, keinen Meter weiter. Nicht zu Frau Niederbach und schon gar nicht zu Lissas Haus. Es genügte zu wissen, dass es da war. Dass Matthi da saß und glücklich war, während er hier von Jonathan die Welt erklärt bekommen musste, weil ihm alles über den Kopf wuchs.
Das Wasser rann seine Kehle hinunter, es war lauwarm geworden und ein Großteil der Kohlensäure hatte sich verflüchtigt. „Ich wohne im Hasewinkel. Und die ersten zwei Wochen jedes Monats fahren meine Eltern, die beiden letzten Wochen fahren die Finkens. Fahrgemeinschaft. Ist praktischer." Raphael nickte langsam. „Finkens, das ist-" „Joshua. Joshi", unterbrach Jonathan ihn. „Obwohl ich jetzt nur noch mit seinem kleinen Bruder zusammen fahre. Finn. Siebte Klasse, wenn ich mich nicht irre. Vielleicht war er letztes Jahr aber auch schon in der siebten. Achte ist also auch möglich."
Jonathan zupfte an seinem rechten Ohrläppchen, das tat er manchmal, wenn er sich an etwas erinnern wollte, dass er schon vergessen hatte. „Der ist in der siebten. Gestern hat uns aber Joshi hingefahren. Er war ziemlich schlecht gelaunt weil er dafür früh aufstehen musste."
Jonathan hielt inne, das Ohrläppchen noch zwischen Daumen und Zeigefinger. „Als erstes hat er gar nicht gesprochen und hinterher gefragt, ob ich wüsste, mit wem du zusammen bist." Raphael starrte auf den Asphalt und sagte nichts. Ein Auto fuhr vorbei und wirbelte Staub auf. „Ich hatte natürlich keine Ahnung. Aber Juna hatte ja mal was von dieser Celine erzählt. Also hab ich auf sie getippt." Raphael löste seinen Blick von der Straße und blinzelte. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken und rieb sich mit den Handrücken über seine Schläfen.
„He, Vogel-Strauß. Nicht den Kopf in den Sand stecken!", fuhr Jonathan ihn an. Raphael stöhnte auf und raufte sich die Haare. Nichts wäre ihm gerade lieber als eine riesige Wüste ohne Menschen, in der er alles der letzten Wochen einfach so im Treibsand untergehen lassen könnte.
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Uranus ist auch nur ein Planet
Roman pour AdolescentsMit einer überragenden Körpergröße von einem Meter sechsundneunzig ist das Untertauchen in der Menge Raphaels Superkraft, die er bis zur Perfektion betreibt. Nie hätte er damit gerechnet, dass sich genau das an einem gewöhnlichen Freitagnachmittag...