22 - Raphael

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Am Samstagmorgen wurde Raphael von einem ohrenbetäubenden Staubsaugergeräusch geweckt. Immerhin hatte er so lange geschlafen, bis es sein Zimmer erreicht hatte. Raphael drehte sich um und zog sich sein Kopfkissen über beide Ohren. „Raphael!", übertönte die keifende Stimme seiner Mutter sogar noch das jaulende Dröhnen.

„Oma Siggi kommt heute und dein Zimmer ist eine einzige Katastrophe!" Raphael stöhnte und drehte sich wieder in Richtung Decke. Das Regal hing immer noch über seinem Kopf, er nahm sich fest vor dieses Mal nicht dagegen zu stoßen.

„Mein Zimmer sieht überhaupt nicht schlimm aus", rechtfertigte er sich, aber seine noch schlaftrunkene Stimme ging im Geheule des Staubsaugers unter. Das Teil war alt, um nicht gar antik zu sagen und produzierte so viel Dezibel wie ein startendes Passagierflugzeug.

„Im Ernst, du solltest mal Matthis Zimmer sehen", murmelte er und war noch im selben Moment froh, dass der Staubsauger so laut war. „Und Hermann und Ursula finden auch immer einen Vorwand um hier nach dem Rechten zu sehen."

Hermann und Ursula waren Raphaels Großeltern väterlicherseits, Oma Siggi seine Großmutter mütterlicherseits. Raphaels Mutter brachte die Namen ihrer Schwiegereltern nie mit den Begriffen Oma oder Opa in Zusammenhang, andersherum war es genauso. Raphael hatte schon in frühen Jahren bemerkt, dass Witze über diese Eigenheit nur selten lustig waren.

Raphaels Mutter stellte den Staubsauger aus und fing stattdessen damit an, die schmutzige Kleidung aus der Wäscheecke auf seinem Schreibtischstuhl zu stapeln. Der plötzlich fehlende Geräuschpegel hinterließ eine quälende Stille.

„Ma! Das hat so alles ein System! Lass die Sachen da, ich kann das sonst nicht auseinanderhalten!" Raphael setzte sich auf und zog seinen Kopf gerade noch rechtzeitig am Regal vorbei, sodass nur sein Ohr die gefährliche Ecke streifte.

„Als ich in deinem Alter war, da kam mein Vater mit einem großen Sack und hat alles weggeworfen was auf dem Boden herumlag."

Raphael erwiderte nichts und rieb sich stattdessen den Schlaf aus den Augen. Kirmessamstag mochte für die meisten Jugendlichen in seinem Alter ja unglaublich toll sein, aber wenn es gleichzeitig bedeutete, eine riesige Saubermachaktion zu starten und die Verwandtschaft zu einem aufwendigen Essen einzuladen, dann ergaben sich eben auch unglaubliche Nachteile.

Immerhin hatte Raphael nicht vor sonderlich lange auf der Kirmes zu bleiben, nach elf war seine Schicht schließlich vorbei, da fiel ein gesamter Nachmittag mit etlichen quälenden Gesprächen deutlich stärker ins Gewicht.

„Was gibt es denn zu essen?", fragte Raphael nach der einzigen Sache, die das Ganze erträglich gestalten konnte. „Maurers haben uns ein paar Schmorgurken vorbei gebracht. Aus dem eigenen Garten." Raphael räusperte sich, seine Mutter inspizierte einen Stapel Kohlezeichnungen.

„Was ist jetzt eigentlich mit dem Herrn Büchner?" Irritiert sah Raphael sie an, bis ihm die Mail wieder einfiel, in der Herr Büchner seine Eltern über den Schulpsychologen und den Unfall informiert hatte. „Ich hab 'nen Termin beim Schulpsychologen", gab Raphael zähneknirschend zu. Wohlwissend, dass er dieses Eingeständnis später bereuen würde.

„Gut." Raphaels Mutter warf noch einen Blick auf die Zeichnungen. „Die sind ja auch ziemlich dunkel." Er schaffte es, ein genervtes Stöhnen zu unterdrücken. „Ja, das muss so. Kohle ist bekanntlich schwarz", bemerkte Raphael stattdessen und schlurfte zu seinem Kleiderschrank hinüber um ein paar passende Klamotten herauszusuchen.

Wenn er sich zwischen dem Essen und dem abendlichen Vergnügen im Festzelt nicht umziehen wollte, war das auch gar nicht mal so einfach. Schließlich nahm Thomy ihm die Entscheidung ab, in dem er schrieb, dass für alle Mithelfenden Jeans und ein weißes T-Shirt vorgesehen waren. Im Grunde genommen war das für beide Anlässe nicht das richtige.

Uranus ist auch nur ein PlanetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt