Jonathan hatte behauptet, in Warnheim würden sich Gerüchte schneller verbreiten als Magen-Darm. Und in den folgenden Tagen war es Raphaels Gerücht, das langsam durch die Köpfe der Nachbarn sickerte, das von einigen unbeachtet hingenommen und von anderen weitergegeben wurde.
In der Schule drehten sich Köpfe in seine Richtung oder schnell von ihm weg, Flüstern erhob sich oder erstarb in dem Moment, in dem er den Raum betrat. Zumindest bildete er sich das ein. Wenn sie unter dem Dachfirst der Schule im Kunstraum saßen und darauf warteten, dass Frau Dietrich kam. Roberta und Melanie hatten ihren Stammplatz auf der Fensterbank eingenommen und hielten überraschenderweise nicht ihr Handy in der Hand. Dafür redeten sie über irgendetwas, nicht quietschend kichernd, sondern leise und in einem verschwörerischen Ton.
Luisa hatte Ohrstöpsel in den Ohren und setzte das Datum des gestrigen Tages auf ihre unordentlich dahin geschmierten Hausaufgaben. Raphael ließ sich auf seinen Stuhl sinken und hoffte, Frau Dietrich würde ihren Kaffeeklatsch am Kopierer ausnahmsweise einmal ausfallen lassen. Er bückte sich nach seinem Rucksack und legte in Zeitlupe seine Sachen zurecht. Melanie und Roberta redeten immer noch ungewohnt leise in seinem Rücken, ihre Blicke saßen Raphael im Nacken.
Als es schließlich nichts mehr gab, dass er hätte zurecht rücken können, lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und knibbelte an einer eingetrockneten Kleisterspur. Früher hatte er in solchen Situationen sein Handy gezückt und war dahinter verschwunden. Aber die Vision eines neuen Handys war in weite Ferne gerückt und auf die Arbeitskollegin von Junas Mutter würde er jetzt wohl auch nicht mehr hoffen können.
„Stimmt es?" Roberta war diejenige mit der größeren Klappe. Dennoch war es Melanie, die ihn fragte. Raphael drehte sich zu ihnen um. Er musste die Augen zusammenkneifen, durch das Fenster fielen ihm die grellen Sonnenstrahlen ins Gesicht.
Es war das erste Mal, dass ihn das gefragt wurde. Jonathan hatte es einfach irgendwie gewusst. Juna auch, genauso wie seine Eltern. Raphael schirmte sich mit einer Hand gegen die Sonne ab. Ein Kleisterstück löste sich und fiel auf den Boden. „Ja, schon."
Roberta zog prüfend die Nase kraus – wahrscheinlich eine nervige Angewohnheit, wenn man selbst nur zu gerne Halbwahrheiten von sich gab – dann drehte sie sich zu Melanie um. Robertas rot bemalten Lippen glitten mit einem schmatzenden Geräusch auseinander und entblößten ein euphorisches Grinsen. „Et voila, einen Döner für mich!" Melanie seufzte und ließ den Kopf resigniert gegen die Fensterscheibe sinken. „Wehe du nimmst mit extra Soße." Raphael zog die Nase kraus, wartete auf einen abschließenden Kommentar, einen Faustschlag ins Gesicht, eine Reaktion. „Im Ernst, Ruby. Du hast mich diesen Monat schon den Kino-Eintritt gekostet. Dabei war der Film grausig." Roberta zog an einer von Melanies dunklen Locken und lachte, als sie wieder zurück an ihren Platz sprang. Bevor sie weiter sprach, warf sie Raphael einen schnellen Blick zu.
„Nicht, dass du denkst, wir hätten-" „Wetten abgeschlossen?", unterbrach er sie stirnrunzelnd und wusste nicht, ob er verärgert oder belustigt sein sollte. „Keine Sorge, hört sich nicht im Entferntesten danach an."
Vom Gang ertönten die energischen Schritte von Frau Dietrich, das Kommando für Roberta und Melanie synchron von der Fensterbank zu rutschen. Raphael seufzte. „Na hoffentlich schmeckt der Döner", bemerkte er sarkastisch. „Und tu mir einen Gefallen und nimm definitiv mit mehr Soße." Roberta reckte beide Daumen in die Luft. „Mit extra scharfer Soße und ohne Zwiebeln", bestätigte sie und Frau Dietrich sowie ein Hauch ihres Parfums gemischt mit dem Geruch frisch kopierter Blätter wehten ins Klassenzimmer.
„Mittagessen unter Dach und Fach? Dienen die Ohrhörer nur zur Dekoration oder darf ich das dazugehörige Handy vorne auf mein Pult legen? Ja, sehr gut. Dann hat niemand etwas dagegen mit dem Unterricht zu beginnen", sagte sie und zwischen ihren Augenbrauen schossen zwei strenge Falten in die Höhe. Luisa verdrehte die Augen und zog sich ihre Stöpsel aus den Ohren. Melanie betrachtete missmutig den zerknitterten Fünfeuroschein, den sie aus ihrer Jeanstasche gezogen hatte. Für zwei Döner würde der wohl nicht mehr reichen.
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Uranus ist auch nur ein Planet
Roman pour AdolescentsMit einer überragenden Körpergröße von einem Meter sechsundneunzig ist das Untertauchen in der Menge Raphaels Superkraft, die er bis zur Perfektion betreibt. Nie hätte er damit gerechnet, dass sich genau das an einem gewöhnlichen Freitagnachmittag...