Matthi leckte sich die verbleibenden Reste der Pommes Gewürzmischung von den Fingern, Raphael saß einfach da und wunderte sich über das, in was er da hinein geraten war. Vor gut einem Monat hatte er Juna und Matthi quasi noch nicht gekannt, vor einem Monat war Lissa noch am Leben gewesen und vor einem Monat hätte er auch niemals einen Gedanken an die Lippen eines anderen Jungens verschwendet. Zumindest nicht so, wie er es jetzt tat.
Raphael barg den Kopf in den Händen und rieb sich die Schläfen. „Müde?", fragte Matthi und wischte sich die Finger am Handtuch ab. Fast, dachte Raphael, nickte aber. „Ganz eindeutig zu wenig Schlaf." Dass er nicht einschlafen konnte, weil ihm sein Gedankenkarussell Nacht für Nacht nicht zu Ruhe kommen ließ, erwähnte er nicht. Wie sollte er denn mit der ganzen Sache umgehen, wenn er sich noch nicht mal traute, sie beim Namen zu nennen? Und außerdem, wie sollte er einen klaren Gedanken fassen, wenn ihn allein die Tatsache, dass Matthi ihm gegenüber saß, furchtbar nervös und glücklich zugleich machte?
„Kaltes Wasser soll da helfen, hab ich gehört", fuhr Matthi fort und grinste. Raphael zog eine Grimasse. „Aber ich bin schon fast wieder trocken", erwiderte er schwerfällig und rutschte auf dem Handtuch herum, bis er komplett in der Sonne lag. Mit Juna und den anderen Zweien war es ihm vollkommen normal vorgekommen im Wasser herum zu albern. Er konnte sich es nicht vorstellen, dass es jetzt genauso werden würde. „Und außerdem bekommst du einen Sonnenbrand auf der Nase", versuchte Raphael die Diskussion damit zu beenden. Matthi tastete sich über Nase und Wangen, die gerötete Haut färbte sich erst weiß, bevor sie wieder ihre intensive Tönung annahm. Dann zuckte er mit den Schultern.
„Willst du noch hier bleiben, bis Tobi und die anderen für das Lagerfeuer kommen?", wechselte er das Thema. Raphael schürzte die Lippen, Matthi „Tobi war mal in deiner Stufe, oder?", fragte Matthi und während er ihn ansah, überkam Raphael das Gefühl, dass er mit nur einem einzigen Blick all seine Gedanken erfassen konnte. Er beschränkte sich auf ein knappes Nicken. Er hatte schon wieder verdrängt, was Juna über das Lagerfeuer und die Pläne der anderen erzählt hatte.
„Wir waren sogar relativ gut befreundet, bis er die Schule gewechselt hat. Aber danach haben wir uns kaum noch gesehen." Raphael biss sich auf die Zungenspitze und beobachtete die Entenfamilie, die laut schnatternd ein paar kreischenden Kindern auswich. Die Kinder warfen einander einen pinken Ball zu, Raphael fragte sich, ob Matthi auch schon dankbar dafür gewesen war, dass es kein grüner Ball war.
Er versank noch ein wenig tiefer in seinen Gedanken. Im letzten Sommer war auf einem benachbarten Weidestück hinter dem schmalen Waldstreifen ein elektrisch gesicherte Zaun defekt gewesen und auf einmal hatten sich die Badenden sich das Seewasser mit ein paar Kühen teilen müssen. Diese Sensation hatte tagelang das Sommerloch der Zeitungen gefüllt und schließlich kannte jeder mindestens einen Augenzeugen dieses denkwürdigen Tages.
Tobi war dagewesen, das hieß es zumindest. Aber Rica hatte das eindeutig verneint. Sie war auch eine dieser Augenzeugen und viele der Nachbarn hatten sich anschließend bei ihr nach dem Vorgehen derer erkundigt, die die Kühe gemeinsam mit dem einen einsamen und spitz hornigen Bullen wieder aus dem See heraus getrieben hatte. Und jetzt würde Tobi wieder da sein. Raphael seufzte leise. Matthi schenkte ihm einen wissenden Blick.
„Ich hab Tobi vor ein paar Wochen nochmal in Warnheim gesehen. Aber mehr als ein Hallo, wie geht's hatten wir uns nicht mehr zu sagen. Dabei, wie gesagt, hab ich mich früher wirklich gut mit ihm verstanden. Teilweise sogar besser als mit Rica.", erzählte Raphael. „Rica ist deine mysteriöse Freundin?" „Jep", sagte er zustimmend und schmunzelte über den schlechten Witz, den Matthi unbedingt bei jeder Gelegenheit auspacken musste. „Sie hat so rosa blonde kurze Haare. Du kennst sie bestimmt vom Sehen. Ich hab immer das Gefühl, sie kennt die ganze Stadt und die ganze Stadt kennt sie."
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Uranus ist auch nur ein Planet
Teen FictionMit einer überragenden Körpergröße von einem Meter sechsundneunzig ist das Untertauchen in der Menge Raphaels Superkraft, die er bis zur Perfektion betreibt. Nie hätte er damit gerechnet, dass sich genau das an einem gewöhnlichen Freitagnachmittag...