Es war der achtundzwanzigste Dezember und über dem stahlgrauen Meer vor der Küste Den Haags schwebte die Dämmerung. Wind zerrte an ihren Jacken und sie hatten die Kapuzen über ihre Mützen gestülpt, um der Kälte zu trotzen. Möwen kreischten und flogen dicht über ihre Köpfe hinweg, immer wieder brachen Wellen an den Reihen aus Holzstämmen, die weit ins Wasser hinausragten. Meeresschaum und Gischt spritzten, die Flut kam.
Nachdem Matthi schon Anfang August nach Den Haag gezogen war, hatte Raphael ihn das letzte halbe Jahr nur vereinzelt gesehen und immer nur für ein paar Stunden. An Lissas Geburtstag im September war er nach Hause gekommen und hatte einen Tag später einfach so vor seiner Tür gestanden. Er hatte ruhiger gewirkt und sicherer. Hatte ihm Bilder gezeigt, vom Kitesurfen und Wolkentürmen, die in den Wellen versanken, wenn es Abend wurde.
Im November war er wieder da gewesen, zur Hauptverhandlung. Er hatte aussagen müssen, genauso wie Raphael selbst. Matthi hatte merkwürdig ausgesehen, in knitterfreiem Hemd und Anzugshose. Frederik und Matteo hatten auf den Zuschauerbänken gesessen, als Levi in den Raum kam. Zunächst hatte er starr geradeaus gesehen, aber diesen Vorsatz schon auf dem Weg zur Anklagebank fallen lassen. Levis Gesicht war beim Anblick der Zwillinge noch blasser geworden als zuvor.
Auf der Hinfahrt mit dem Zug hatte Raphael Angst gehabt, sie würden über den Prozess sprechen müssen. Über das Urteil oder die Befragung. Aber jetzt, wo sie sich Schulter an Schulter den Gezeiten stellten, wirkte die Hauptverhandlung wie aus einer anderen Welt, die nichts mit kreisenden Möwen, rauschenden Wellen oder kleinen Häuschen mit Backsteinfassade gemein hatte.
Matthi wohnte in so einem Backsteinhäuschen, in einer Wohnung unter dem Dach, die im Sommer zu warm und im Winter zu kalt war. Aber dafür war sie klein und wenn Matthi, so wie am späten Nachmittag seiner Ankunft, kochte, dann verbreitete sich der Duft von würzigem Essen bis in die hinterste Ecke. Später hatten sie einige Minuten lang zusammengekauert auf dem Sofa gesessen, während die Fenster sperrangelweit aufstanden, um den Geruch wieder loszuwerden. Ein paar Schneeflocken waren draußen vorbei gesegelt, aber der Boden war zu warm, als dass sie liegen geblieben wären.
„Raphael?"
Matthis Stimme klang leise, obwohl er laut sprach. Er drehte sich zu Rapahel um, sodass der Wind ihm die Haare ins Gesicht trieb. In der Ferne, am anderen Ende der Bucht, blinkte in regelmäßigen Abständen das Licht eines Leuchtturms. Er war nur noch schemenhaft zu erkennen. Konstruiert aus Lagen von transparentem Grau. Raphael fühlte kleine Sandhäufchen in seinen Schuhen und die Kälte, die seine Fingerspitzen taub werden ließ.
„Ich bin froh, dass du hier bist."
Raphael lächelte sanft, bevor er antwortete. „Das bin ich auch." Dann hielt er Matthis Haare zurück, schob die weinrote Mütze hoch, die ihm in die Augen gerutscht war und küsste ihn. Matthis Lippen schmeckten nach Salz und bleierner Dämmerung und trotz der Kälte breitete sich eine wohlige Wärme in ihm aus.
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Uranus ist auch nur ein Planet
Teen FictionMit einer überragenden Körpergröße von einem Meter sechsundneunzig ist das Untertauchen in der Menge Raphaels Superkraft, die er bis zur Perfektion betreibt. Nie hätte er damit gerechnet, dass sich genau das an einem gewöhnlichen Freitagnachmittag...