Es war irgendwie sogar schon ironisch, dass Raphaels Handy kaputt war, er von niemandem mehr erreicht werden konnte, während ein vollkommen intaktes in seiner Schreibtischschublade lag, dass er nicht benutzen konnte.
Merkwürdig, wie selbstverständlich einem manche Dinge erscheinen. Auf die Uhr sehen, Nachrichten checken, die Nachrichten im Stufenchat verfluchen. Facebook, Instagram, nur ein bisschen recherchieren für die Hausaufgaben. Wie hat die Generation vor uns eigentlich seine Biologie Hausaufgaben überstanden?
Raphael saß auf dem Drehstuhl vor seinem Schreibtisch, stieß sich mit den Füßen am Boden ab und fuhr eine Runde nach der anderen, bis das Bild vor seinen Augen verschwamm. Auf der Weihnachtskarte, die ihm seine Oma letztes Jahr mit unter den Baum gelegt hatte, prangte der Schriftzug Denken ist wie googeln. Nur krasser. Raphael wusste immer noch nicht, was er davon halten sollte. Auch wenn fest stand, dass der Tag ohne Handy und Internet plötzlich achtundvierzig Stunden zu haben schien.
Vielleicht lag es daran, dass Raphael plötzlich den Entschluss fasste, rauszugehen. Einfach so. Er könnte Clemens, den Hund von Frau Hader, auf eine kurze Runde abholen. Oder auch nicht. Ohne Rica kam ihm das seltsam vor.
Sie hatte ihm während ihres Streits vorgeworfen, ein Arsch zu sein, weil er sich nicht bei Celine gemeldet hatte. Was auch irgendwie stimmte, wenn man die ganze Situation objektiv betrachtete. Raphael band sich die Schuhe zu und nahm seinen Schlüssel vom Schlüsselbrett. „Ich bin kurz weg, Mama!", brüllte er hoch ins Treppenhaus, wartete auf die gedämpfte Antwort. „Sei zum Abendessen wieder hier!", klang es durch die Wände und Türen hindurch. „Ja-ah!"
Ein seltsames Krächzen in seiner Stimme, dann das Zufallen der Haustür. Raphael vergrub die Hände in den Hosentaschen, aus dem Geäst des Baumes, der den Wendehammer begrünte, erhob sich laut zwitschernd eine Amsel. Es war schon lange her, seitdem Raphael das Haus ohne Musik auf den Ohren verlassen hatte, geschweige denn auf Banalitäten wie den Gesang eines Vogels zu achten.
Sein verstorbener Großvater, Lungenkrebs durch jahrelange Passivraucherei in den Dunstkreisen seiner Frau, war Jäger gewesen und studierter Biologe. Er hatte ihn auf Hochsitze mitgenommen, ihn durch sein schweres Fernglas sehen lassen. Ihm zu Weihnachten Wildschweinwurst geschenkt und ihm gezeigt, wie man einen Stift hielt. Nicht zum Schreiben, sondern zum Zeichnen. Und wenn es eines gab, dass Raphael mit seinem Großvater verband, dann war es das Singen der Vögel.
Gimpel, Mönchsgrasmücke, Erlenzeisig und wie sie alle heißen. Raphaels Großvater hatte den Frühling geliebt und den Sommer verabscheut. Vielleicht war er deswegen am zwanzigsten Juni gestorben, am letzten Frühlingstag. „Die Menschen sagen, hör mal, wie schön die Vögel zwitschern. Aber die Menschen sagen vieles, Raphael, merk dir das. Denn wenn die Vögel im Sommer zwitschern, dann singen sie ihr Todeslied."
Raphael blieb an einer schmalen Kreuzung stehen, Feldweg oder Straße. Gedankenfrei oder gewissenlos. Es war schon längst überfällig, sich bei Celine zu melden. Zumindest, um ihr zu sagen, dass es ihm leid tat. Er ging weiter am Straßenrand entlang, die knarzige Stimme seines Großvaters noch in den Ohren.
„Kinder. Es dreht sich immer alles um die Kinder."
Sie hatten gemeinsam auf dem Hochsitz gesessen, sein Großvater auf einem hölzernen Schemel, da er nicht mehr so lange ausharren konnte. Geschwächt war, vom Alter, kaum stark genug, um die Leiter des Hochsitzes zu erklimmen. Er hatte seinen knorrigen faltigen Zeigefinger ausgestreckt, bloß ein wenig, und ihn sich dann auf die Lippen gelegt. „Siehst du den Fuchs, dort, am Waldrand?"
Raphael hatte genickt, ganz sachte, und sich die Haare aus den Augen gestrichen. Das rostrote Fell des Fuchses stahl sich durch die hohen Gräser, steuerte zielsicher auf die dunklen Erdflecken zu, wo die Baue der Kaninchen und Hasen im Erdreich verschwanden. Lauerte ihnen auf.
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Uranus ist auch nur ein Planet
Fiksi RemajaMit einer überragenden Körpergröße von einem Meter sechsundneunzig ist das Untertauchen in der Menge Raphaels Superkraft, die er bis zur Perfektion betreibt. Nie hätte er damit gerechnet, dass sich genau das an einem gewöhnlichen Freitagnachmittag...