In der Grundschule hatte Rica dem dicken Daniel einmal ein frisch gekautes Kaugummi unter seine überdimensional großen Pobacken gelegt, es hatte viele lange Fäden gezogen und war wahrscheinlich für immer und ewig mit dem Jeansstoff verbunden geblieben.
Genauso lang wie die Fäden dieses Kaugummis zog sich die Versammlung in der Aula. Anfangs hatten alle Schüler bedächtig geschwiegen, selbst die, die nie etwas mit Lissa zu tun gehabt hatten. Raphael hatte den Hals gereckt und nach Matthi gesucht, aber er schien die Schule direkt nach seinem Besuch im Sekretariat wieder verlassen zu haben. Auch Jonathan ließ sich nicht blicken, aber das war nichts Ungewöhnliches. Er war klein und sein mausbraunes Haar unscheinbar.
Also saß Raphael allein auf seinem Stuhl am Ende der sechsten Reihe, die Arme dicht neben seinem Körper um nicht mit der Seitenlehne des Nachbarstuhls in Kontakt zu kommen, auf der ein Mädchen versuchte, möglichst unauffällig in einen Wrap zu beißen.
Als es seinen skeptischen Seitenblick bemerkte, starrte das Mädchen ihn wütend an. Erst nach ein paar Sekunden und einem Rippenstoß der augenscheinlichen Freundin weiteten sich ihre Augen. „Bist du der, der versucht hat sie zu retten?", flüsterte sie und legte den Wrap zurück in ihre Brotdose.
Raphael presste die Kiefer so fest aufeinander, dass es wehtat. „Ja", antwortete er nur und versuchte den geschwollenen Worten der Schulleiterin zuzuhören. Sie trug schwarz und wirkte hinter dem Mikrofon gefasst. Die Haare hatte sie zu einem strengen Zopf zurückgebunden.
„Und deshalb bitte ich euch alle, Melissa zu gedenken und all den Schmerz, all unsere Trauer, die ihr plötzlicher Tod in uns hervorgerufen hat, in das Schweigen hineinzulegen."In der Aula wurde es still. Mit jeder Sekunde, die verstrich wurde es stiller und lauter. Raphael dachte, dass eine Stille erst dann still wurde, wenn man ihre Lautlosigkeit verzweifelt erzwang.
Wenn ein heiseres Räuspern erklang an der Stelle eines trockenen Hustens, wenn Reißverschlüsse in kleinsten Etappen aufgezogen wurden, um die Stille nur achtzehn kurze Male zu stören und nicht bloß ein langes Mal. Wenn ersticktes Schnäuzen in Taschentücher erklang, ein gequältes Wimmern an der Stelle eines lauten Schmerzensschreis.
Das Mädchen neben Raphael schluckte einen Bissen Wrap herunter. Im Nachhinein fragte Raphael sich, ob das Mädchen Juna dankbar gewesen war, weil sie die unerträgliche Stille störte und das Mädchen, ohne dass jemand anderes etwas bemerkte, mit Wasser nachspülen konnte.
Mit einem ohrenbetäubenden Poltern landete Junas Stuhl auf dem Boden. Einen Augenblick lang herrschte absolutes Schweigen. Juna ging weinend den Mittelgang entlang. Mit erhobenem Haupt und dennoch kasteit, als laste die Schwere der Welt auf ihren Schultern. Ihre Haut war blass und ihr Haar war dunkel, sie erinnerte an Darstellerinnen, die man aus schwarz weiß gefilmten Stummfilmen kannte. Alle Köpfe drehten sich in ihre Richtung, alle Blicke folgten ihr.
Die schweren Brandschutztüren schlossen sich hinter ihr, ganz langsam, sodass die gesamte Aula hören konnte, wie sie schreiend und schluchzend vor der Tür zusammenbrach.Die Schulleiterin verhaspelte sich, als sie wieder zu sprechen begann und aus ihrem ordentlichen Zopf hatte sich eine Strähne gelöst. Sie verhaspelte sich schlimmer, als eine von Junas Freundinnen Juna nachrannte und binnen Sekunden wieder zurückgeschickt wurde.
„Ich will deine Hilfe nicht, man wird doch wohl noch weinen dürfen!", rief Juna und ihre Worte beeindruckten Raphael mehr als Rede der Schulleiterin.
Vielleicht begriff sie das auch, jedenfalls hörte sie ganz plötzlich auf zu reden. „Der Unterricht wird heute wie gewohnt stattfinden", sagte sie zum Abschluss und Raphael war fast ein bisschen enttäuscht. Es war eindeutig leichter, still neben einem Wrap essendem Mädchen zu sitzen, als sich im Unterricht mit allen möglichen Gerüchten und Halbwahrheiten auseinander zu setzten. Mit einem letzten Seufzen stand er schließlich auf, als es zu auffällig geworden wäre, noch länger sitzen zu bleiben.
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Uranus ist auch nur ein Planet
Teen FictionMit einer überragenden Körpergröße von einem Meter sechsundneunzig ist das Untertauchen in der Menge Raphaels Superkraft, die er bis zur Perfektion betreibt. Nie hätte er damit gerechnet, dass sich genau das an einem gewöhnlichen Freitagnachmittag...