Das Blut rauschte in Raphaels Ohren, als er dem Auto hinterherblickte. Dann war mit einem Mal alles still. Marlene und Sophie waren verschwunden, Matthi war verschwunden, noch nicht mal ein Hundebellen durchbrach die stoische Ruhe. Nur die blauen Hortensienbüsche unter dem Küchenfenster flüsterten im Wind. Aber vielleicht bildete er sich das auch lediglich ein.
Wie um sich selbst davon zu überzeugen, dass die Welt nicht plötzlich um ihn herum erstarrt war, machte Raphael einen Schritt auf die Haustür zu. Dann noch einen und noch einen. Als er schon mit dem halben Fuß über der Schwelle stand, blieb er stehen. Er konnte nicht da rein gehen. Wenn seine Mutter ihn wirklich gesehen hatte, und das hatte sie, denn Matthi war einfach schlau, das musste man ihm lassen, halbe Sachen waren einfach nicht sein Ding, nein, dann konnte er das jetzt einfach nicht.
Raphaels Atem ging flacher, er krallte sich am Türrahmen fest, war einen Moment lang davon überzeugt, die Kontrolle über sein Gleichgewicht zu verlieren und umzukippen. „Verdammte Scheiße", flüsterte er und spürte, wie seine Augen vor lauter Wut, Enttäuschung und Hilfslosigkeit zu brennen begannen. Raphael rieb sich feste über die Lider, schloss sie und atmete tief durch. Zählte bis fünf und machte die Augen wieder auf.
Im Grunde hatte er keine Wahl, Matthi hatte all seine Alternativen mit einem Vorschlaghammer zertrümmert. Und Raphael wusste immer noch nicht, ob er das Recht dazu hatte, ihm das vorzuwerfen. Wäre das alles noch vor ein paar Wochen geschehen, hätte er jetzt zu Rica laufen können. Sie hätte ihm die stinkende Matratze aus dem Keller angeboten, Raphael hätte versucht sie die eng gewinkelte Treppe hochzuhieven. Rica hätte ihn ausgelacht und ab Mitte der Kellertreppe übernommen, weil sie seinen erbärmlichen Anblick nicht länger ertragen konnte. Sie hätte den Kopf schief gelegt, sich einmal gegen die Stirn getippt und die Matratze mit einer beneidenswerten Leichtigkeit neben ihr eigenes Bett verfrachtet.
Rica hätte aus einer verstaubten Ecke des Badezimmers ein Zahnbürstenfossil hervorgezaubert und ihm aus Victors Kleiderschrank einen hoffentlich unbenutzten Schlafanzug besorgt. Obwohl man sich diesbezüglich bei Victor auf nichts verlassen sollte. Sie hätten versucht einzuschlafen, den Atem des jeweils anderen gehört und irgendwann anfangen müssen zu lachen. Raphael hätte ihr alles erzählen können und Rica hätte zugehört. Stattdessen hatte er jetzt niemanden, zu dem er gehen konnte. Nicht Rica, nicht Matthi oder Juna und schon gar nicht seine Eltern.
Langsam rutschte Raphael am Türrahmen entlang zu Boden. Sein Blick fiel auf das Schild aus gebranntem Ton, das neben der Haustür hing. Hier wohnen Dirk, Miriam und Raphael stand dort in kleinen ordentlichen Lettern. Und darüber, etwas größer: Familie Lengsmann. Familie. Raphael lächelte bitter. Was für eine Familie waren sie eigentlich, wenn er sich jetzt nicht traute, sein eigenes Zuhause zu betreten.
Vielleicht sollte er das Schild abnehmen und im Restmüll entsorgen. Oder Jonathan fragen, was für eine Säure er aus dem Chemielabor entwenden musste, um seinen Namen wegzuätzen. Jonathan war im Moment wahrscheinlich sowieso die einzige Person, die überhaupt noch mit ihm reden würde.
„Ach hier steckst du!" Raphael sah, wie sich polierte spitzzulaufende Büroschuhe auf ihn zubewegten. Sein Vater besaß Schuhe dieser Art in zweihundertfacher Ausfertigung, daneben noch ein Paar Wanderschuhe sowie ein Paar Sandalen. Variation war etwas, was in Herrn Dirk Lengsmanns Leben noch nie existiert hatte.
„Warum sitzt du denn auf dem Boden?" Raphael hob den Kopf. „Einfach so", antwortete er tonlos und beobachtete, wie sich zunächst Verwunderung und dann Resignation in der Miene seines Vaters widerspiegelten. „Nun gut." Sein Vater zog die Schultern hoch und lockerte gleichzeitig seine Krawatte. „Aber es gibt jetzt Abendbrot. Kommst du?" Raphael nickte schwach. „Sofort", erwiderte er, aber da war sein Vater auch schon im Flur verschwunden.
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Uranus ist auch nur ein Planet
Teen FictionMit einer überragenden Körpergröße von einem Meter sechsundneunzig ist das Untertauchen in der Menge Raphaels Superkraft, die er bis zur Perfektion betreibt. Nie hätte er damit gerechnet, dass sich genau das an einem gewöhnlichen Freitagnachmittag...