„Hey!" Matthi stand auf der anderen Straßenseite und hob die Hand. Raphael fühlte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte, nur um sich im nächsten Augenblick schmerzhaft zusammenzuziehen. „Hey", rief er etwas leiser zurück und schluckte. Es war Donnerstagnachmittag, eigentlich hätte Matthi schon längst mit Juna am See sein müssen. Aber dem war offensichtlich nicht so.
Raphael war sicherheitshalber sogar noch besonders langsam bis zur Bushaltestelle gegangen, genau um eine solche Situation zu vermeiden. Und jetzt stand Matthi dort und er hier mit einem dicken Kloß im Hals. Raphael fischte sein Handy aus der Hosentasche und scrollte durch seine Fotos, um den Anschein zu erwecken, irgendetwas Wichtiges erledigen zu müssen.
Anscheinend sah es nicht wichtig genug aus, denn aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Matthi die Straße überquerte. Gegen Nachmittag war es wieder sehr warm geworden, er trug ein blaues T-Shirt, das bei näherer Betrachtung genau dieselbe Farbe hatte wie der helle Kreis rund um seine Pupille.
„Ist Juna auch noch abgesprungen, oder warum seid ihr noch nicht weg?" Raphael steckte sein Handy zurück in seine Tasche, bevor Matthi einen Blick auf seine Galerie erhaschen konnte. „Juna hat Stress mit ihrer Mutter. Oder besser gesagt", Matthi kratzte sich an der Nase, „muss sie warten, bis ihre Mutter wieder weg ist zur Arbeit. Wir brauchen nämlich das Auto."
Raphael runzelte die Stirn. „Ist sie schon achtzehn?" Matthi lachte leise. „Ne, aber sie fährt auch nur bis zu mir. Sind fünf Minuten oder so. Das letzte Mal hab ich hier Polizisten gesehen, das war-" Matthi räusperte sich, Raphael biss sich auf die Zungenspitze. Er wusste genau, wann er hier das letzte Mal Polizisten gesehen hatte. Die Sekunden verstrichen quälend langsam, es hätten genauso gut Minuten oder Stunden sein können. An Lissas Todestag. An Lissas Todestag hatte Raphael hier zum letzten Mal Polizisten gesehen.
„Wie dem auch sei, Juna kommt gleich, also hast du sogar noch die Chance, mitzufahren. Ich hab wirklich versucht, es nicht persönlich zu nehmen, dass du deine Oma uns vorziehst, aber-", Matthi sah Raphael bedauernd an und seine Augen blitzen schelmisch, „-aber es ist verdammt schwer." „Meine Oma?", hakte Raphael nach, bis ihm seine Ausrede schließlich wieder einfiel. „Meine Oma, ja klar. Der Geburtstag. Doch, da könnt ihr definitiv nicht mithalten."
Matthi grinste und bedachte ihn dann mit einem prüfenden Blick. „War wohl eine sehr spontane Feier, wenn du sie jetzt schon wieder vergessen hast. Sollte ich es doch persönlich nehmen?" Raphael stellte seinen Rucksack ab und zog die Reißverschlüsse zurecht. „Mmh, mir war es nur gerade entfallen." Er spürte, wie sich seine Wangen rot färbten, die Luft um sie herum schien noch ein paar Grad wärmer zu werden. Der Himmel war wolkenlos.
Matthi klopfte ihm auf die Schulter. „Kein Problem, ich will dich ja nicht zu deinem Glück zwingen. Aber du hättest einfach sagen können, dass du keine Lust hast." „Ich hab Lust, ich wollte nur nicht-", stotterte Raphael und verstummte. „Wollte nur nicht riskieren, dich in Badehose zu sehen, und dann aus dem Mist gar nicht mehr herauszukommen", setzte er den Satz in Gedanken fort und spürte sogleich, wie die Übelkeit wiederkam. Sein Neustem war sie sein ständiger Begleiter, genauso wie die Bauchschmerzen.
„Wie gesagt, noch hast du die Möglichkeit. Juna streitet sich noch mit ihrer Mutter." Raphael vergrub die Hände in den Hosentaschen. „Mein Bus kommt gleich, außerdem hab ich gar kein Handtuch und-" Matthi verdrehte die Augen. „Also das ist jetzt wirklich kein Problem. Ich kann dir alles leihen. Oder wir fahren noch bei dir vorbei. Du wohnst doch eh da oben."
Verzweifelt suchte Raphael nach irgendeinen Ausweg, obwohl ein anderer Teil seines Gehirns schon damit beschäftigt war, sich den Nachmittag auszumalen. Es war ein stinknormaler Tag am See, zusammen mit Juna und Matthi. Sie würden sich über den unbekannten Fahrer unterhalten, Raphael würde ihnen vom Gespräch mit Thomy erzählen. Es würde schön werden. Warum also suchte er nach einer Ausrede?
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Uranus ist auch nur ein Planet
Teen FictionMit einer überragenden Körpergröße von einem Meter sechsundneunzig ist das Untertauchen in der Menge Raphaels Superkraft, die er bis zur Perfektion betreibt. Nie hätte er damit gerechnet, dass sich genau das an einem gewöhnlichen Freitagnachmittag...