Die verdiente Ruhe des Wochenendes war so erholsam, dass die Zeit noch schneller als sonst verging. Raphael verbrachte den Samstag mit der gelegentlichen Beschäftigung mit seinen Hausaufgaben und kam sogar der Bitte seiner Eltern nach, den Backofen zu putzen und den Rasen zu mähen. Hauptsächlich natürlich, um die Schulaufgaben vor sich her zu schieben, bis keine Zeit mehr blieb, um sie vernünftig zu machen.
In den angrenzenden Gärten ratterten ebenfalls die Rasenmäher, es roch nach zerplatztem Chlorophyll und Tau, der unter der immer wärmer werdenden Sonne verdunstete. Raphael zerrte die alte Maschine aus dem Gartenraum. Sie war schwer, rostig und so laut, dass das Ministerium für Arbeitsschutz wahrscheinlich das Tragen von Kopfhörern vorschrieb.
Der Rasen war in den letzten Tagen so in die Höhe geschossen, dass man ihm beim Wachsen hätte zusehen können. Auch in den restlichen Ecken und Winkeln des Gartens sprossen Blumen und Pflanzen durchwirkt von Löwenzahn und anderem Unkraut explosionsartig aus dem Boden. Die Kletterrosen, die an der Hauswand empor wucherten, waren drauf und dran die Fensterrahmen in Angriff zu nehmen und die Feigenbüsche, die ursprünglich einmal neben der Terrasse gewachsen waren, ragten zunehmend in die Tischgruppe hinein.
Durch die Wohnzimmerfenster hindurch konnte Raphael sehen, wie seine Mutter hektisch hin und her rannte. Mal war sie in der Küche, nahm sich ein Glas Wasser und durchquerte trinkend das Wohnzimmer, dann war sie wieder oben im Schlafzimmer und schlug die Türen des Kleiderschrankes gegen die Fensterscheiben.
Raphael seufzte leise und ließ den Rasenmäher aufheulen. Ilse hatte anlässlich ihres Geburtstages die gesamte Frauengruppe der Nachbarschaft zum Brunch eingeladen und ohne dass Raphaels Mutter es ausgesprochen hatte wusste er, dass es seine Schuld war, dass sie so unruhig herum tigerte und minütlich ihr Outfit änderte.
Als Kindergärtnerin kannte Ilse alle Mütter sowie ihre Kinder aus ganz Hausen, Warnheim und Umgebung. Alles, was es an Gerüchten gab, würde an diesem Tag in Ilses Garten zusammen kommen. Als kleine Samen herbei getragen werden und von tausenden getuschelten Worten und immer größer werdenden Diskussionsrunden gewässert werden, bis hinzugedichtete Details Blüten trieben und Berichte von Augenzeugen tiefe Wurzeln in das allgemeine Gedächtnis schlugen.
Ächzend hievte Raphael den Rasenmäher um eine Pflanzinsel und konnte es nicht gänzlich verhindern, dass ein paar Blattenden einer Pflanze, dessen Namen Ricas Bruder sicherlich gewusst hätte, mit zerschreddert wurden.
Sich erste Schweißperlen aus der Stirn wischend, stellte Raphael den Rasenmäher ab und nahm den Auffangbeutel aus seiner Vorrichtung, um ihn zum Kompost zu bringen. Es war noch früh, trotzdem war es schon jetzt beinahe unerträglich warm. Abgeschnittene Grashalme stoben zu allen Seiten, als Raphael den Korb ausleerte. Auf dem Weg zurück zum Rasenmäher wagte er einen zweiten Blick durchs Wohnzimmerfenster. Sein Vater hatte einen Arm um die Schultern seiner Mutter gelegt und drückte sie behutsam an sich. Sie ließ es geschehen, nahm seine Hand ihre linke und strich mit der rechten den Stoff ihrer Bluse glatt.
Raphael beobachtete, wie sein Vater lächelte und seiner Frau einen vorsichtigen Kuss auf die Stirn gab. Nach einem letzten Händedruck lösten sich ihre verschränkten Finger voneinander. Der Blick seiner Mutter wanderte nach draußen, schnell machte Raphael sich daran, am Verschluss des Benzintanks herum zu drehen. Nur um dann so beiläufig wie möglich ihrem Blick zu begegnen und die Hand zum Abschied zu heben.
Bei jedem Ziehen am Anlasser pochte die Frage in Raphaels Kopf auf, ob er es sich getraut hätte, sich in diese Höhle des Löwen zu begeben. Ob er in Wahrheit nicht noch viel heuchlerischer war als seine Mutter. Ob er sich nicht selbst vor seiner eigenen Wahrheit versteckte. Immer noch. Das Aufheulen des Rasenmähers pendelte sich ein, mutierte zu einer besorgniserregenden Regelmäßigkeit, die alle Fragen übertönte. Als Raphael während seiner nächsten Runde am Wohnzimmer vorbei kam, waren seine Eltern schon wieder verschwunden.
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Uranus ist auch nur ein Planet
Novela JuvenilMit einer überragenden Körpergröße von einem Meter sechsundneunzig ist das Untertauchen in der Menge Raphaels Superkraft, die er bis zur Perfektion betreibt. Nie hätte er damit gerechnet, dass sich genau das an einem gewöhnlichen Freitagnachmittag...