44 - Raphael

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Ohne Wasser kann ein Mensch etwa sieben Tage lang überleben. Ohne Nahrung ungefähr einen Monat. Demnach hätte Raphael mindestens sieben Tage lang sein Zimmer nicht verlassen müssen. Zumindest theoretisch. Denn praktisch gesehen musste er pinkeln.

Er kam sich selbst kindisch vor, wie er dort vor seiner Zimmertür stand und lauschte, ob der Flur frei war. Aber sein Vorrat an Mut war mit der Übergabe des Handys irgendwo im Nichts verpufft, zurückgeblieben war nichts als der alte feige Raphael.

Er sperrte die Tür auf, das knirschende Geräusch des Schlüssels kam ihm lauter vor als ein startender Düsenjet. Raphael biss sich auf die Zungenspitze, quetschte sich aus dem Türspalt hinaus in den Flur und schloss die Tür wieder hinter sich. Dann würde es immerhin so aussehen, als wäre er noch in seinem Zimmer.

Im Badezimmer angelangt mied er den Blick in den Spiegel, stellte das Wasser eisig kalt und wusch sich sein Gesicht. Raphael konnte nicht sagen, wie viele Stunden er geschlafen hatte, ob er überhaupt geschlafen hatte. Irgendwann waren ihm die Stöpsel aus den Ohren gerutscht, er hatte sich mit seinem Oberkörper in dem Kabelsalat verheddert und war hochgeschreckt, weil er das Gefühl hatte, von hinten erdrosselt zu werden.

Danach hatte er gelesen, bis ihm die Augen brannten, er hatte eine Packung Streichhölzer in seiner Schreibtischschublade gefunden und eines nach dem anderen abgefackelt, bis er Angst hatte, der Feuermelder würde Alarm schlagen. Schließlich hatte er gelüftet und eine Zeit lang nach draußen gestarrt, bis das trübe Licht der Straßenlaternen vor seinen Augen verblasste.

Raphael beugte sich zum Wasserhahn herunter und trank ein paar Schlucke. Wischte sich mit dem Handgelenk über den Mund und stellte sich wieder an die Tür um zu horchen. Er fragte sich, wie seine Eltern die Nacht verbracht hatten. Ob seine Mutter noch lange geweint hatte und ob sie seinem Vater alles erzählt hatte. Vielleicht hätte er darüber enttäuscht sein müssen, dass sie nicht nach ihm gucken gegangen waren, aber letztendlich war Raphael darüber eher erleichtert.

Auf dem Flur herrschte immer noch eine eiserne Stille. An normalen Samstagen hätten sie jetzt unten zusammen gefrühstückt. Sein Vater hätte die Zeitung gelesen und seine Mutter die Geschehnisse aus dem wöchentlichen Käseblättchen kommentiert. Raphael öffnete die Badezimmertür und überquerte den Flur. Wie auch immer, es konnten auch nicht alle Samstage gleich ablaufen.

So leise wie möglich drückte er die Klinke herunter, schob die Tür einen Spalt breit auf und hätte fast einen leisen Schrei ausgestoßen.

Sein Vater saß auf seinem Bett und versuchte sich an einem Lächeln, das sehr gut in eine Werbeanzeige für Magen-Darm-Tabletten gepasst hätte. In die Szene vor Einnahme des versprochenen Wundermittels. Es war sehr gequält, sehr verkrampft und sehr unecht. Raphael erstarrte, die Klinke noch in der Hand. Sie löste sich und glitt mit einem klitschenden Geräusch zurück in ihre Ausgansposition.

„Deine Mutter hat dir ein Brötchen geschmiert. Du hast gestern ja kaum etwas gegessen." Unbeholfen zeigte sein Vater auf das Tablett auf Raphaels Schreibtisch. Eine Hälfte Käse, die andere Nutella. Der Tee in einer großen bauchigen Tasse dampfte noch. Raphael war kurz davor, seinem Vater eine zynische Bemerkung a la sie hätte sich nicht hetzen müssen, ein Mensch kann dreißig Tage lang ohne Essen überleben an den Kopf zu werfen, entschied sich dann aber für einen gleichgültig vernichtenden Blick.

Ein paar Sekunden vergingen, sein Vater hatte das Magen-Darm-Lächeln inzwischen abgelegt und wirkte genauso unbeholfen wie Raphael sich fühlte. Abgesehen davon, dass sein Vater sich gemütlich auf seinem Bett breit gemacht hatte, während Raphael selbst immer weiter zur gegenüberliegenden Zimmerecke rutschte.

„Ich habe keinen Hunger", erwiderte Raphael irgendwann. Einen Moment lang wollte er reflexartig ein Aber danke trotzdem hinterher schieben, dann ließ er es bleiben. Sein Vater zog die Schultern hoch.

Uranus ist auch nur ein PlanetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt