„Wochenende okay?"
Jonathan saß Raphael in der Cafeteria gegenüber und vermischte sein Essen, bis es eine gleichförmige Struktur erhielt. Raphael überlegte kurz, ob es wirklich Jonathan war, der ihm die Frage gestellt hatte. Immerhin war es schon Dienstag und normalerweise mied Jonathan Themen wie das Wetter, das Wochenende oder Hobbys, wie die Pest. Aber da ansonsten nur noch Frau Seidel, die Schulpsychologin, an einem der hinteren Tische am Essen war, musste es wohl so sein.
War sein Wochenende okay gewesen? Raphael zog die Schultern hoch und starrte weiter auf Jonathans Teller. Es gab Hühnerfrikassee. Faseriges Fleisch, das farblos in zähflüssiger Soße unterging und lieblos auf ein armseliges Häuflein Reis geklatscht worden war. Jonathan schien die undefinierbare Masse nicht an Erbrochenes zu erinnern, jedenfalls kaute er genüsslich. Raphael rollte einen Apfel von der einen Hand in die andere und hob die Schultern.
„Nichts Besonderes."
Vier Wörter, elf Silben und zu viele Buchstaben, um sie im Kopf zu zählen. Wahrscheinlich war das Konversationskontingent für die heutige Pause bereits erschöpft. Mit den meisten Menschen war Reden leichter als Schweigen, bei Jonathan war es umgekehrt. Schweigen war sein natürlicher Aggregatzustand. Vielleicht dachte er über Aggregatzustände nach, während er schwieg. Oder hatte in der fünften Klasse über Aggregatzustände nachgedacht und beschäftigte sich jetzt mit Quantenphysik und Determinismus. Irgendetwas musste man schließlich zu tun hatte, wenn man so langsam aß.
Eine Gabel nach der anderen wanderte in Jonathans Mund. Er hatte Raphael einmal ausführlich erklärt, warum es wichtig war, bedächtig zu essen und gut zu kauen. Wenn er so weiter machte, würde Raphael in etwa drei Minuten das erste Mal in seinen Apfel beißen können. Dann würden er und Jonathan gleichzeitig fertig werden. Sicherheitshalber sah er auf seine Uhr. Pünktlich nach drei Umrundungen des Sekundenzeigers nahm Raphael sich den Apfel vor. Das Mensaessen musste Im Voraus bestellt werden und wenn man zu spät dran war, bekam man eine Woche lang nichts.
Die letzten Male, als Raphael seine Bestellung vergessen hatte, hatte ihm seine Mutter etwas mitgegeben. Im Aufenthaltsraum der Oberstufe gab es sogar eine kleine Mikrowelle. Aber gestern hatte er es noch nicht gewagt, sie danach zu fragen, welche Dosen in der Tiefkühltruhe mitgenommen werden durften und welche nicht.
Am Samstag hatten sie gemeinsam zu Abend gegessen, auch wenn die Ereignisse vom vorherigen Tag wie ein riesiges Damoklesschwert über ihren Köpfen darauf gewartet hatten, sie zu enthaupten. Seine Mutter hatte sich Mühe gegeben. Sowohl mit dem Essen als auch mit ihrem Gesichtsausdruck. Das hatte selbst Raphael zugeben müssen. Trotzdem war er erleichtert gewesen, hinterher wieder alleine in seinem Zimmer zu sein.
Von dem Apfel waren nur noch Kerngehäuse und Stiel übrig, als Jonathan das Besteck ablegte und sorgfältig seine Essenmarke im Portemonnaie verstaute. Auffordernd nickten sie sich zu, Raphael versenkte die Überreste seines Apfels im Mülleimer und Jonathan schob sein Tablett unter knirschendem Quietschen zurück in den Waagen. Frau Seidel verzog gequält das Gesicht, hob dann aber die Hand, als sie Raphael erkannte.
„War das die Schulpsychologin?", fragte Jonathan, nachdem sie die Cafeteria verlassen hatten. „Mmh", machte Raphael nur und überlegte erneut, wer wohl noch zu ihr hin ging. „Kommst du mit zum Aufenthaltsraum? Ich muss noch an den Spind", schob er schnell hinterher, auch wenn er nur wenig Lust verspürte, das schwere Mathebuch in seinen Rucksack zu verfrachten. Zum Glück war das seine letzte Stunde. Außerdem hatte er zum ersten Mal seit Wochen seine Hausaufgaben verstanden. „Gut", lautete Jonathans knappe Antwort, dann schulterte er ebenfalls seinen Rucksack.
Am Ende der Mittagspause war der Gemeinschaftsraum wie immer gerappelt voll, Raphael musste sich zwischen Sesseln und Stühlen und fliegenden Radiergummis hindurch winden, um zu seinem Schließfach zu gelangen. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie Jonathan zunächst im Türrahmen stehen geblieben war, jetzt aber von irgendeinem Mädchen zu sich gerufen wurde. Aller Wahrscheinlichkeit nach ging es um Physik-Hausaufgaben.
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Uranus ist auch nur ein Planet
Teen FictionMit einer überragenden Körpergröße von einem Meter sechsundneunzig ist das Untertauchen in der Menge Raphaels Superkraft, die er bis zur Perfektion betreibt. Nie hätte er damit gerechnet, dass sich genau das an einem gewöhnlichen Freitagnachmittag...