Raphael saß auf der Bordsteinkante neben dem verrosteten Bushaltestellenschild und pulte Moos aus den Pflastersteinritzen. Unter seinen Fingernägeln sammelten sich Erdkrumen und braune Blutkrusten.
Mit leerem Blick betrachtete er die Szenerie auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sanitäter hasteten hin und her, Lissas Körper war auf eine Trage befördert und an verschiedene Geräte gestöpselt worden. Matthi hatte eine Schockdecke abgelehnt und seine Brüder mit bleichem Gesicht aus dem Haus geholt. Sie sahen verheult aus und kletterten einander an den Händen haltend in den Rettungswagen.
Eine junge Rettungssanitäterin, die Raphael auf die Schulter geklopft und sich anschließend um Matthi hatte kümmern wollen, nickte ihm noch einmal zu. Er erwiderte ihre Geste nicht, obwohl er es gerne getan hätte.
Raphael fühlte sich ausgelaugt, vollkommen leer. Die Türen des Rettungswagens schlossen sich, Sirene und Blaulicht wurden angeschaltet. Lichtblitze zuckten über die Fassade von Frau Niederbachs Haus, die Sirene machte einen ohrenbetäubenden Krach. Raphael nahm ihn kaum wahr.
Der Wagen nahm denselben Weg wie das schwarze Auto. Bog um die Straßenecke und verschwand. Plötzlich herrschte Vakuumstille. Vollkommene Leere.
Herr Marrlach stand auf der anderen Straßenseite. Er vergewisserte sich dreimal nach links und rechts schauend, dass kein Auto kam, bevor er zu ihm herüber hastete. In den Händen hielt er Matthis Flipflops. Raphael spürte den Kloß in seinem Hals anwachsen.
Herr Marrlach legte sein Jackett ab und zog daran herum, bis es ordentlich und ohne Falten auf seinem Unterarm lag. Er schluckte und starrte auf das verbogene Fahrrad. Dann auf seine Uhr.
„Der Bus ist zu spät", sagte er.
Ein Warndreieck stand auf der menschenleeren Straße ein paar Meter die Straße hinauf.
„Ja, der Bus ist zu spät", erwiderte Raphael.
Sie führten diese Unterhaltung jeden Freitag und wäre der Bus heute pünktlich gekommen, dann hätte das die Welt endgültig zum Einsturz gebracht.
Raphael rückte ein wenig nach links, um ihn herum hatte er schon jede Pflastersteinritze gesäubert. Das herausgerissene Moos vertrocknete auf den warmen Steinen. Er musste husteten. Herr Marrlach sah ihn an.
„Ich wusste gar nicht, was ich tun sollte, ich-"
Er schüttelte den Kopf und strich immer wieder über den glatten Stoff seines Jacketts. Unter seinen Armen zeichneten sich Schweißflecken ab. „Es ist so erschreckend, nicht wahr?" Raphael nickte, er war sich nicht sicher, ob er Herrn Marrlach überhaupt verstanden hatte. „Es war wie in einem dieser Filme. Ein schwarzes Auto, einen Moment Unachtsamkeit und peng-" Er schnipste und Raphael zuckte zusammen.
Es war kein peng gewesen, sondern ein Knirschen. Ein unscheinbares Quietschen, wie von einem Stück Kreide, das in der ersten Stunde am Montagmorgen über die Tafel gezogen wird.
„Sie war noch so jung." Blinzeln. „Ein hübsches Mädchen." Raphael schluckte, wollte sagen, dass sie noch nicht tot war, dass sie weiterleben würde, dass sie hundert Kinder und tausend Enkelkinder haben würde. Stattdessen hustete er wieder. Der aufgewirbelte Staub des flüchtenden Autofahrers hatte sich in seiner Lunge festgesetzt.
„Der Bus kommt, Raphael", sagte Herr Marrlach und sah auf seine Uhr. Vielleicht wollte er sich die Verspätung notieren. Vielleicht führte er eine Liste und würde das Busunternehmen wenn er in Rente gegangen war und Langeweile verspürte, auf verlorene Lebenszeit verklagen.
„Ja", krächzte er und stand schwankend auf. „Ich-" Sein Blick blieb an den vertrockneten Büschen in Frau Niederbachs Vorgarten hängen.
„Geht es dir nicht gut?"
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Uranus ist auch nur ein Planet
Teen FictionMit einer überragenden Körpergröße von einem Meter sechsundneunzig ist das Untertauchen in der Menge Raphaels Superkraft, die er bis zur Perfektion betreibt. Nie hätte er damit gerechnet, dass sich genau das an einem gewöhnlichen Freitagnachmittag...