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Am nächsten Morgen kletterte Raphael vorsichtig und nach allen Seiten Ausschau haltend die schmale Leiter herunter ins erste Obergeschoss. Er fühlte sich wie eine alte Ziehharmonika, die Jahrzehnte zusammengestaucht in einem Karton verbracht hatte und jetzt auf einmal eine flotte Symphonie hinlegen sollte. Die Nacht hatte er auf dem Fußboden verbracht und seine Bewegungen waren ungelenker als die von Frau Niederbach nach ihrer Hüftoperation.

Am Fuße der Treppe angekommen, erwartete ihn eine freudige Überraschung. Frau Niederbach hatte seine verschwitzten und mit Blut besudelten Klamotten gewaschen und gebügelt.

„Guten Morgen, mein Junge. Es wird ja auch langsam Zeit, aus den Federn zu kommen. Hast du gut geschlafen?"

Raphael drehte sich so schnell um, dass das Bild vor seinen Augen verschwamm. Frau Niederbach stand vor ihm im Flur. Peinlich berührt bedeckte er sich mit den frisch gewaschenen Kleidungsstücken. Und dass, obwohl er nicht nackt war, sondern immer noch das Nachthemd trug. Raphael fing gar nicht erst damit an, sich mit der poetischen Frage zu beschäftigen, was von beidem ihm unangenehmer gewesen wäre.

„Ja, sehr gut", log Raphael. „Danke nochmal." Frau Niederbach lächelte und nickte. Sie trug keine Brille. Wahrscheinlich war die Frage nackt oder Nachthemd sogar nebensächlich. „Beeil dich, das Frühstück steht schon seit heute Früh bereit und die Butter wird weich." „Mach ich. Gerne. Ich müsste nur einmal ganz schnell ins Bad." Raphael räusperte sich und Frau Niederbach machte ihm den Weg zum Badezimmer frei. Pfeifend atmete er aus und zog die Tür hinter sich zu.

Zwischen Faszination und Abscheu gefangen sah er sich um. Die vollkommene Hässlichkeit des antik anmutenden Badezimmers musste ihm gestern Abend im Halbdunkeln entgangen sein. Die Fliesen waren braun gesprenkelt, auf dem Waschbeckenrand lag eine Zinnschale im Stil des Art Nouveau mit einem Stück Kernseife.

Froh, das Nachthemd endlich loszuwerden, tauschte er es gegen Hose und T-Shirt. Raphael umgab eine sanfte Duftwolke und ihn beschlich das Gefühl, dass er heute den ganzen Tag dezent nach Lavendel riechen würde. Nach Lavendel und gedecktem Apfelkuchen.

Mit den Händen fuhr er sich kurz durch die Haare, die sich perfekt in den braun gekachelten Hintergrund einfügten. Der Wasserhahn spritzte, als er ihn aufdrehte, die Schatten unter seinen Augen hatten einen kritisch dunkelvioletten Zustand erreicht. Das Nachthemd ließ er ordentlich gefaltet über dem Badewannenrand zurück und machte sich auf den Weg zum Frühstück.

Frau Niederbach hatte sich alle Mühe gegeben. Sie schien die Theken sämtlicher Supermärkte abgeklappert zu haben, allerlei Wurst und Käse stapelten sich auf dem kleinen Tisch in der Küche. „Oh", machte Raphael nur, als er hinter den ganzen Aufschnitt sein Besteck kaum sehen konnte. „Das ist beeindruckend, Frau Niederbach." Ihre Augen strahlten stolz. „Du kannst dir gerne noch was einpacken. Für den Weg nach Hause." „Ich schau mal, danke", sagte Raphael ausweichend. So lang war die Busfahrt dann doch nicht. Er setzte sich, suchte verstohlen nach Nutella oder etwaigen Nussnougatcremeverwandten und fand sie nicht.

„Hier sind Brötchen", sagte Frau Niederbach, die seinen umher irrenden Blick aufgefangen haben musste. Sie hielt ihm einen gefüllten Korb unter die Nase, er lächelte gezwungen. „Dankeschön." Er nahm sich eins und fühlte sich beobachtet. Frau Niederbach stand hinter ihm, er konnte ihre knochigen Hände an der Rückenlehne spüren. „Möchtest du einen Kakao, Junge?" Er schluckte seinen Bissen herunter. „Oh, ja. Das wäre toll." Nachdem Frau Niederbach auf dem voll beladenen Tisch noch eine freie Ecke für die dünnwandige Tasse gefunden hatte, setzte sie sich ihm gegenüber. Bei seinem zweiten Brötchen begann sie trübsinnig vor sich hin zu nicken.

„Es ist furchtbar dort draußen, überall Menschen." Sie machte eine vage Handbewegung in Richtung Straße. Raphael setzte die Tasse an die Lippen. Der Kakao war brühend heiß, seine Zunge fühlte sich an, als würde sie Brandblasen werfen. Tränen stiegen ihm in die Augen, Frau Niederbach legte ihm mitfühlend eine Hand auf den Unterarm.

Uranus ist auch nur ein PlanetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt