Normal. Kannst du dich nicht einfach mal normal benehmen?
Ricas Worte hallten in seinem Kopf nach, vermischten sich mit dem ewig gleichen Rhythmus der Musik. Raphael vergrub seinen Kopf in den Händen, fuhr sich über die Augen, biss sich auf die Zunge und schmeckte Blut. Er wusste nicht, warum sich ausgerechnet dieser Satz in seinem Hirn festgesetzt hatte. Normal.
Raphael zwang sich dazu, tief durchzuatmen, die Situation nüchtern zu betrachten. Dabei konnte er sich sein Verhalten selbst nicht erklären. Aber er war nicht eifersüchtig; nicht wirklich. Es war etwas anderes, dass er nicht zu fassen vermochte, etwas, das ihn so sehr in Angst versetzte, dass es seine Gedanken lähmte und erstarren ließ.
Langsam beruhigte sich Raphaels Atem wieder, er hatte die Lider noch geschlossen, hoffte einfach, dass niemandem ein eins sechsundneunzig großer Junge auffallen würde, der neben dem Festzelt auf dem matschigen Boden hockte.
Plötzlich spürte er, wie sein Handy in seiner Hosentasche vibrierte. Nachricht von Unbekannt. Das bläuliche Licht des Displays brannte in Raphaels Augen, trotzdem entsperrte er das Handy.
Hi Raphael, ich hoffe es war okay, dass ich Luisa nach deiner Nummer gefragt habe. Hast du nächste Woche um das mündliche Abi herum Zeit? Juna hat mich gefragt, ob ich mit ihr zum Blauen See fahren möchte und du darfst gerne mitkommen, wenn du willst. Ich kann natürlich verstehen, wenn du schon etwas anderes vorhast, aber mich würde es freuen! Vielleicht schon Donnerstagnachmittag oder auch Dienstag, wenn dir das lieber ist :)
Auf die erste Nachricht folgte noch eine zweite. Matthi übrigens. Hatte vergessen das zu schreiben. Raphael schmunzelte, ein Gefühl von kribbeliger Wärme durchflutete ihn. Wäre auch mein erster Tipp gewesen, schrieb er zurück und schob noch ein hastiges Danke hinterher. Der blaue See war kein See sondern lediglich ein kleiner Weiher. Früher war Raphael mit Rica und Victor dort gewesen, dann nochmal mal mit einer Ferienfreizeit. Wahrscheinlich sah es dort immer noch so aus wie früher.
Allerdings waren Matthi und Juna nicht Rica und Victor. Und selbst wenn Matthi Juna gefragt hatte, ob er, Raphael, mitkommen durfte, war ihre Zusage noch lange keine Garantie dafür, dass er wirklich erwünscht war. Trotzdem änderte das nichts an der Tatsache, dass Raphael mit Matthi und Juna zum Blauen See wollte und Matthi ihn eingeladen hatte. Raphaels Finger schwebten über dem Display, für den Moment hatte er vergessen, dass er sich eben noch mit seiner besten und einzigen Freundin gestritten hatte.
Ich war schon lange nicht mehr am Blauen See und wenn Juna nichts dagegen hat, würde ich gerne mitkommen, tippte er und drückte schließlich auf senden.
Raphael schluckte, starrte auf die leuchtenden Pixel und stellte sich vor, wie Matthi am anderen Ende saß und seine Nachricht erhielt. Es dauerte nicht lange, bis seine Antwort kam.
Juna hat Donnerstagnachmittag die letzten Stunden frei, wie sieht es bei dir aus? Auch frei, oder muss du blau machen :p Raphael kniff die Augen zusammen, um sich seinen Stundenplan in Erinnerung zu rufen. Neben ihm ging ein Mann mittleren Alters ins Festzelt hinein und warf ihm einen skeptischen Blick zu. Ricas Stimme hallte wieder in seinem Kopf nach.
Kannst du dich nicht einmal normal benehmen? Normal. Normal. Normal. Es war nicht im Mindesten normal, vor dem Kirmesfestzelt zu sitzen, alleine und nur mit dem Handy in der Hand. Er hätte bei Rica sein müssen, zu Hause oder bei Scheurers. Raphael schloss kurz die Augen, als er sie wieder öffnete grinste ihm vom oberen Rand des Displays Matthis Profilbild entgegen. Seine Locken standen in alle möglichen und unmöglichen Richtungen ab, Raphael meinte die Spitze eines Surfbrettes zu erkennen.
Normal. Normal. Normal. Solange niemand kam und ihn erkannte und seinen Eltern Bescheid gab, war alles in Ordnung. Musste man denn normal sein und das tun, was die anderen tun? Konnte man nicht einfach, angelehnt an eine Festzeltstange auf dem Boden sitzen und sein Handy anstarren? Matthis Status bestand aus einem englischen Zitat, bei dem Raphael zwei Vokabeln nicht übersetzen konnte.
DU LIEST GERADE
Uranus ist auch nur ein Planet
Roman pour AdolescentsMit einer überragenden Körpergröße von einem Meter sechsundneunzig ist das Untertauchen in der Menge Raphaels Superkraft, die er bis zur Perfektion betreibt. Nie hätte er damit gerechnet, dass sich genau das an einem gewöhnlichen Freitagnachmittag...