Der Montagmorgen begann fürchterlich. Raphael wachte gleich zwei Mal auf. Das erste Mal um sechs Uhr drei, weil sein Vater seine Zimmertür aufstieß und brummte, dass das Bad frei sei, das zweite Mal um sechs Uhr vierundfünfzig, weil seine Mutter schrie.
Raphaels Kopf donnerte gegen das Regal, so heftig, dass sich die Wandverankerung löste und ihm Goethes Faust vor die Nase fiel. Der Rest des Regals landete auf seinem Hinterkopf und seiner Schulter, die Bücher rutschten herunter, Dürrenmatt wurde gerade noch so von ihm aufgefangen, dafür zerschlug ein nagelneuer Thriller das Wasserglas neben seinem Bett.
Die Wasserlache versickerte in dem zerknäulten Teppich, der sowieso mal wieder eine Säuberung nötig gehabt hätte. Raphael hatte schon gar nicht mehr gewusst, dass der Teppich dort unten noch existierte.
Er wartete einige Sekunden lang, ob der Büchersteinschlag beendet war, dann traute Raphael sich, sich zu bewegen. Packte das leere Regalbrett und riss auch noch die zweite Befestigung aus der Wand.
Faust lag mit tausend Knicken und Eselsohren vor ihm, Raphael hätte beinahe gelacht, als ihm die Passagen entgegen schrien, die er auf der aufgeschlagenen Seite markiert hatte.
Dem Taumel weih ich mich, dem schmerzlichsten Genuss,
Verliebtem Hass, erquickendem Verdruss.
Er blätterte weiter.
Du bleibst doch immer, was du bist.
Wundervoller Start in den Morgen. Immerhin hatte sich der Zufall für den Pakt mit dem Teufel entschieden und nicht für Fausts Selbstmordversuch. Immerhin etwas. Wo sein Teppich gespickt mit Glasscherben die Wasserlache aufsog, seine Wand zwei hässliche Löcher aufwies und sein Bus in diesen Sekunden abfuhr.
„RAPHAEL!"
„Ich komme Ma!"
Er klappte Faust zu, bog den Umschlag zurück und legte das Buch auf seinen Schreibtisch. Versuchte, allen sichtbaren Glasscherben auszuweichen und möglichst unverwundet bis zu seinem Kleiderschrank zu kommen.
„Der Bus ist jetzt weg."
Seine Mutter stand im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt. „Jaah, das stimmt." Zog sich ein hoffentlich frisches T-Shirt über den Kopf. „Ich habe noch Matthias T-Shirt da. Gewaschen und gebügelt." Raphael räusperte sich, dachte an den Moment zurück, an dem er und Matthi, immer noch ausschließlich mit Badehosen bekleidet, vor der Haustür standen. Seine Mutter hatte völlig perplex die Tür geöffnet, nichts gesagt, aber die Augen so weit geöffnet, dass ihre Iris komplett zu sehen war.
Matthi hatte die Hand ausgestreckt, sich als Matthias Ludwig vorgestellt und gefragt, ob sie Reis da hätten. Raphaels Mutter hatte seine Hand geschüttelt, sich mit vollem Namen vorgestellt, aber Matthi sogleich, nachdem er sie dafür gelobt hatte Haryana Reis zu besitzen, das Du angeboten.
Raphael war den beiden vollkommen verdattert hinterhergelaufen, hatte mit halben Ohr zugehört, während sie sich über den Stärkegehalt von verschiedenen Reissorten unterhielten und wie man das beste Risotto kochte.
Während sie den Reis in Gläser füllten, die Handys in den Körnern versenkten und sie bei geringer Temperatur in den Ofen stellten, unterhielten sich Matthi und Raphaels Mutter schon über den aktuellen Neuigkeiten aus dem Dorf. Darüber, dass der alte Iwanowitsch mit seinem riesenhaften Hund zurück nach Berlin gezogen war und jetzt an Halloween keine Mandarinen mehr verteilte. Darüber, dass im Haus gegenüber eine Familie mit zwei kleinen Mädchen eingezogen war, die jetzt noch ein Geschwisterchen erwarteten und dass es Raphaels und Matthis gemeinsame ehemalige Kindergärtnerin war, die den Geburtsvorbereitungskurs leitete.
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Uranus ist auch nur ein Planet
Teen FictionMit einer überragenden Körpergröße von einem Meter sechsundneunzig ist das Untertauchen in der Menge Raphaels Superkraft, die er bis zur Perfektion betreibt. Nie hätte er damit gerechnet, dass sich genau das an einem gewöhnlichen Freitagnachmittag...