„Mein Handy ist kaputt", eröffnete Raphael seinen Eltern beim Abendbrot, nachdem er noch geradeso rechtzeitig von Celine zurückgekehrt war. „Hat der Reis nicht geholfen?" Seine Mutter warf ihm einen prüfenden Blick zu und hob gleichzeitig zwei Teebeutel aus der Kanne.
„Nein, der Bildschirm bleibt schwarz." Raphael nahm sich eine Scheibe Brot und hielt seiner Mutter die leere Teetasse entgegen. „Bei Matthias hat es funktioniert", stellte sie bedauernd fest und schenkte ihm ein. Raphaels Vater angelte sich ein paar Scheiben Schinken und drapierte sie auf seinem Teller. Wahrscheinlich hatte er schon wieder vergessen, wer Matthi überhaupt war.
„Glaub mir, Ma, mir wäre es auch lieber, wenn es noch funktionieren würde." „Na, das glaub' ich gern", warf Raphaels Vater an ihn gerichtet ein und lachte kurz auf. „Allerdings möchte die Arbeitskollegin der Mutter von einem Mädchen aus meiner Stufe-", begann Raphael. „Wer?", unterbrach ihn seine Mutter. „Juna", antwortete er knapp. „Vielleicht könnte ich so an ein Neues kommen, das nicht allzu teuer ist."
Sein Vater biss in das mit Schinken belegte Brot und kaute genüsslich. Dann legte er das Brot ab, schluckte den Bissen herunter. „Und bis dahin kommst du auch noch ein paar Wochen ohne dieses-", er wedelte mit seiner Hand durch die Luft, „Ding aus." Raphael schürzte die Lippen, senkte seinen Blick und wartete darauf, dass seine Mutter das Gespräch mit einer nebensächlichen Frage wieder in Gang setzte.
Tage vergingen, genauso unspektakulär wie die Kommunikation am Lengsmannschen Esstisch. Seit dem Streit mit Rica am Anfang der Woche hatte Raphael den Gedanken, was er tun würde, wenn sie Freitag im Bus sitzen würde, vor sich hergeschoben. Jetzt stand er neben dem verrosteten Bushaltestellenschild und im Gegensatz zu sonst verflog die Zeit schneller, als es ihm lieb war. Herr Marrlach telefonierte wie üblich mit seiner Frau, vor einigen Minuten hatte er damit begonnen, auf und ab zu gehen.
Raphael wartete nur. Seinen Rucksack auf dem Rücken, die Hände in den Hosentaschen. Manchmal ließ er seinen Blick auf dem Haus gegenüber ruhen, nur um sich dann wieder den Pflastersteinen zu widmen. Am Tag von Lissas Unfall hatte er das Moos aus den Pflastersteinritzen gepult, es war auf den heißen Steinen knusprig geröstet worden. Jetzt quoll es schon wieder aus den Fugen empor, grünes Blut aus den Wunden des Gehwegs.
Auf der anderen Straßenseite lag ein Strauß Lilien, die weißen Blütenblätter zertreten und zerfetzt. Vielleicht war er einst gegen den Zaun gelehnt worden und dann irgendwann umgefallen. Raphael schluckte. Die Lilien waren das einzige, das noch an den Unfall erinnerte. Matthis Familie hatte sich vehement dagegen gewehrt, vor ihrer Haustür ein Denkmal zu errichten.
Raphael sah auf, entdeckte hinter dem Küchenfenster plötzlich eine Bewegung. Blonde Locken mischten sich mit braunen, Matthi hob einen der Zwillinge auf die Arbeitsplatte unterhalb des Küchenfensters. Auf die Entfernung war es gänzlich unmöglich, Frederik und Matteo auseinander zu halten. Raphael überlegte, ob der die Hand zum Gruß heben sollte, kam sich aber dämlich dabei vor. Immerhin sah Matthi nicht in seine Richtung, warum sollte er auch, und davon mal ganz abgesehen-
Matthis Kopf fuhr plötzlich in die Höhe, das Blut rauschte in Raphaels Ohren. Er schlug die Augen nieder, tat so, als interessiere er sich auf einmal brennend für den Plan der Abfahrtszeiten. Stand 2014 prangte in verwaschenen Kleinbuchstaben auf dem Papier hinter der schützenden Plexiglasscheibe, auf die jemand mit Edding Jesus liebt dich geschmiert hatte. Eine unleserliche Antwort prangte darunter, nach einigen Sekunden meinte Raphael Hurensohn entziffern zu können. Obwohl Kuvensunh ebenso wahrscheinlich war.
Ein Klacken verriet, dass die Haustür geöffnet worden war, Raphael wandte sich von den Kritzeleien ab, blinzelte ein paar Mal, bevor er rüber sah. Matthi stand mit einem der Zwillinge in der Tür, Freddie oder Matteo hob einen Arm und winkte Raphael strahlend zu. „Haalloo!", schrie es Raphael entgegen, er lächelte und winkte zurück.
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Uranus ist auch nur ein Planet
Novela JuvenilMit einer überragenden Körpergröße von einem Meter sechsundneunzig ist das Untertauchen in der Menge Raphaels Superkraft, die er bis zur Perfektion betreibt. Nie hätte er damit gerechnet, dass sich genau das an einem gewöhnlichen Freitagnachmittag...