41 - Matthi

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„Entschuldige, es war nicht meine Absicht, dass alles hier so-" Matthi rieb sich über die rot geränderten Augen und zog die Nase hoch. Er wirkte jünger, so wie er vor Raphael saß und selbst nicht ganz wusste wohin. Erinnerte ihn sogar ein wenig an seine Brüder. „Mach dir keinen Kopf. Ist schon okay", antwortete Raphael und bückte sich dann nach seinem Rucksack. „Ich glaub ich hab noch ein paar Taschentücher. Ganz vielleicht." Er beugte sich tiefer und kramte zwischen zwei Collegeblöcken noch eine zerknautschte Packung Tempos hervor

„Tadaa", sagte Raphael triumphierend und hielt Matthi die Packung hin. „Danke." Er nahm sie entgegen und machte eine undefinierbare Handbewegung. „Nicht nur für die Tempos. Du weißt schon." Er lächelte zögernd. Raphael senkte seinen Blick und nickte. Als er aufsah, ruhte Matthis Blick immer noch auf ihm.

Es gab Menschen, deren Blicke man nicht aushalten konnte, weil sie jede Schwäche und jeden Makel mit einem entlarvenden Wimpernschlag entdecken konnten. Und dann gab es Menschen, deren Blicke man nicht aushalten konnte, weil man wusste, dass man das, was in ihnen lag, nicht verdiente.

In Matthis Blick lag das Dankeschön, das er schon vorher ausgesprochen hatte und alles, was er womöglich noch hatte sagen wollen. Sie saßen immer noch gemeinsam auf der schmalen Kante von Lissas Grab. Zu ihren Füßen sammelten sich ein paar Gänseblümchen und streckten der Sommersonne ihre weißumrahmten Köpfchen entgegen. Raphaels Atem ging schneller, er spürte, wie sein Herz aus dem Takt geriet und gegen seinen Brustkorb schlug. Als hätte er nicht schon Probleme genug.

Zwischen Matthis und seine Knie nicht einmal ein Gänseblümchenstil gepasst, so nah saßen sie beieinander. Raphael spürte, wie ihm das Blut in die Ohren schoss, wie ihm immer wärmer wurde und Matthi noch keine Anstalten machte, endlich eines der Taschentücher zu benutzen. Stattdessen saß er da und schaute ihn weiter an. Das Blau seiner Augen leuchtete ihm immer noch entgegen, schien mit jedem Moment strahlender zu werden.

Raphael merkte, wie er blinzeln musste, er strengte sich an, es nicht zu tun, während Matthis Gesicht immer näher zu kommen schien, seine Augen immer größer wurden und sein Knie sachte gegen Raphaels stieß. Er biss sich auf die Zungenspitze, rutschte auf der schmalen Grabeinfassung zurück in Richtung Stein. Sah zu Boden und atmete ein paar unendlich langsam vergehende Sekunden lang aus, bis er hörte, dass Matthi sich die Nase putzte.

„Jetzt wird es voll, hab ich ja schon angekündigt", sagte Matthi locker, als wenn nichts gewesen wäre. Raphael biss sich stärker auf die Zungenspitze, schmeckte Blut und sah sich um. „Ich hätte gar nicht gedacht, dass ein Friedhof so gut besucht ist", murmelte er angesichts der aufblitzenden Köpfe zwischen den Grabreihen. „Ja, ich auch nicht", stimmte Matthi ihm zu und hob gleichzeitig die Hand, um einen älteren Herrn zu grüßen. Er unterhielt sich mit einer Frau mittleren Alters und präsentierte ein offensichtlich neues Paar Gartenhandschuhe.

„Die meisten Besucher sind Frauen. Aber Männer sterben ja auch früher", sagte Matthi noch, dann stand er auf, als hielte er das für einen guten Schlusssatz. Raphael tat es ihm gleich, obwohl er sich immer noch etwas wackelig auf den Beinen fühlte.

Sie zerdrückten den durchgefetteten Pizzakarton zusammen mit zwei Taschentüchern in einem der Mülleimer und gingen dann langsam über den Kiesweg zurück zum hinteren Friedhofstor. Matthi hielt es Raphael auf, doch bevor er hindurch ging, blieb er noch einmal stehen. Raphael streckte zögerlich den Arm aus, ließ ihn dann aber wieder sinken.

„Vielleicht ist es einfacher, wenn du es deinen Eltern sagst. Das mit dem Ball meine ich." Das du geschossen hast. Er blinzelte ein paar Mal. „Nicht heute und nicht morgen. Aber irgendwann." Matthis Schultern hoben und senkten sich, er nickte knapp, dann ging Raphael an ihn vorbei durch das Tor.

Uranus ist auch nur ein PlanetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt