Das Geräusch von Gummisohlen holte Raphael aus seinen Gedanken. Ihm war gerade aufgefallen, dass er Matthis Wollsocken auf dem Wäschegestell vergessen hatte, als Herr Büchner sich in sein Blickfeld drängte.
Verglichen mit Raphaels Körpergröße waren viele Männer klein, er jedoch besonders. „Raphael! Schön dich zu sehen." Raphael nickte und runzelte die Stirn, Herr Büchners Aussage beruhte nicht auf Gegenseitigkeit.
„Wegen des Schulpsychologen. Ich hoffe du bist mir nicht böse, dass bis jetzt leider noch kein Termin frei war. Aber der Ansturm war dann widererwarten doch recht hoch." Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Nach dem Regen war es überraschend schwül geworden.
„Überhaupt kein Problem", erwiderte Raphael. „Ich fühle mich gut", fügte er noch hinzu und hob die Mundwinkel. Den Muskelkater, den er sich durch das Getränkekisten-Schleppen zugezogen hatte, konnte kein Psychiater in den Griff bekommen.
„Aber aber nicht doch." Herr Büchner lächelte sein klebriges Lächeln und bugsierte Raphael aus den Schülerströmen in einen leeren Klassenraum. „Nächste Woche Donnerstag, was hältst du davon? In genau einer Woche? Es ist lediglich eine Stunde und viele deiner Klassenkameraden werden dir berichten können, dass selbst diese kurze Zeit sehr heilsam sein kann."
Aufmunternd sah Herr Büchner ihn an. Raphael konnte und wollte nicht glauben, dass Herr Büchners Schulpsychologe derartige Erfolge erzielte. Andererseits war es sehr schwer festzustellen wer schon alles dort gewesen war. Wahrscheinlich war das nichts, was man laut herausposaunte.
„Wie wäre es mit der dritten Stunde?" Raphael seufzte leise und stellte seinen Rucksack auf einem der Tische ab um nach seinem Stundenplan zu suchen. Leider gelang es ihm nicht schnell genug, sich wegzudrehen, sodass Herr Büchner ihm interessiert über die Schulter blickte.
„Erdkunde also. Bei welchem Kollegen denn? Ich werde das regeln können, keine Sorge. Und danach auch noch eine Freistunde, wie perfekt." „Perfekt, genau", murmelte Raphael leise vor sich hin und packte den Stundenplan wieder weg. „Wo genau muss ich denn hin?", ergab er sich dann seinem Schicksal und Herr Büchner richtete sich stolz auf.
„In den Musikbau, wir haben dort extra ein kleines Büro eingerichtet. Ich werde ihr Bescheid geben, dass du kommst." „Fabelhaft", erwiderte Raphael. „Aber ich komme gerade zu spät, deshalb... Wenn Sie mich entschuldigen würden-" Raphael wechselte vom einen Bein aufs andere, Herr Büchner nickte gewichtig. „Ein außerordentliches Pflichtbewusstsein hast du da. Gut so." Er ging einige Schritte in Richtung Tür und tat sie schwungvoll auf.
Raphael musste sich ein Grinsen verkneifen, als Herr Büchner die Tür einem Mädchen direkt vor die Stirn schlug. Hastig entschuldigte er sich, das Mädchen blickte an ihm vorbei zu Raphael. Es war Juna.
„Oh, hi Raphael", unterbrach sie Herrn Büchners geschwollene Entschuldigung und strich sich eine dunkele Haarsträhne aus der Stirn. „Juna", antwortete er und lächelte. Herr Büchner stotterte noch etwas vor sich hin, dann verklang das Quietschen von seiner Trekkingsandalen auf dem PVC beschichteten Boden des Schulflurs.
Raphael folgte Juna in die entgegengesetzte Richtung. „Himmel der Typ ist ein wandelnder Albtraum", sagte sie leise. „Ich hatte den mal ein halbes Jahr lang in Wirtschaft. Fürch-ter-lich. Hat er dir auch versucht den Schulpsychologen anzudrehen?"
Raphael kratze sich am Hinterkopf und seufzte. „Hab gerade meinen ersten Termin bekommen. Warst du auch schon da?"
Juna lachte leise. „Nee, ich hab den abblitzen lassen. Der hat mich direkt nach der Veranstaltung in der Aula angequatscht. Ich habe Rotz und Wasser geheult und dann kommt der und erzählt mir etwas über die wunderbaren Qualifikationen einer Schulpsychologin die er ausfindig gemacht hat." Ungläubig schüttelte sie den Kopf und sah wieder zu Raphael herüber.
Ihm war immer noch unbehaglich zumute, als er daran zurück dachte, wie Juna weinend aus der Aula geflüchtet war. Es schien Raphael geradezu unbegreiflich, wie sie so gleichgültig darüber reden konnte.
Es war als würde diese Juna eine ganz andere sein als die aus den verzweifelten Nachrichten auf Lissas Handy. Nachrichten, die er eigentlich gar nicht kennen dürfte. Niemand auf dieser Welt war bestimmt dazu sie zu lesen.
„Alles in Ordnung?"
Raphael hob den Kopf. „Ja, klar. Ich muss nur hier rein. Bin sowieso schon zu spät." Juna hob erstaunt die Augenbrauen. „Du hast gar nicht frei?" Er schüttelte entschuldigend den Kopf und legte eine Hand auf die Türklinke. „Was ich dir noch sagen wollte", begann er zögerlich. „Ja?" Juna blieb stehen. „Ich habe einen Freund der eine Zeit lang in einer Autowerkstatt gearbeitet hat. Hier in Warnheim. Ich sehe ihn am Freitag und wollte mich mal nach Lacken und so erkundigen."
Einen Moment lang ging Raphael davon aus, Juna würde ihn auslachen. Ihm sagen, dass das unsinnig sei und vollkommen schwachsinnig. Stattdessen nickte sie anerkennend. „Das hört sich gut an. Wirklich." Sie biss sich auf die Unterlippe und auf einmal wirkte Juna sehr traurig und sehr einsam.
Vor dem Unfall hatte Raphael Juna und Lissa nie wirklich wahrgenommen. Zumindest hatte er das geglaubt. Aber jetzt wo Lissa fehlte wurde ihm bewusst, dass es die beiden immer nur zusammen gegeben hatte. Der dunkle Haarschopf war stets in Begleitung des blonden anzutreffen, ihr Lachen zu einem verschmolzen.
„Sie muss dir unglaublich fehlen."
Juna blinzelte und eine Träne stahl sich aus ihrem rechten Augenwinkel. „Das tut sie. Jeden Tag mehr", antwortete sie leise und ihre Stimme brach. Der Kloß in Raphaels Hals wuchs an, er war noch nie sonderlich gut im Trösten gewesen. Deshalb wunderte es ihn umso mehr, dass ausgerechnet er es war, der einen Schritt auf Juna zumachte und ihr unbeholfen den Rücken tätschelte.
Umarmungen waren immer eine komische Sache wenn man größer war als andere. Jedenfalls versuchte Raphael sich einzureden, dass Junas plötzliches Auflachen daher rührte. Sie sah auf und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen.
„Danke", murmelte Juna. Mit zitternden Händen nahm sie ein zerknittertes Taschentuch aus ihrer Hosentasche und putze sich laut schnäuzend die Nase. Raphael lachte leise, nach einer Weile fiel Juna mit ein.
„Lissa sagte immer ich höre mich beim Naseputzen an wie ein sterbender Elefant."
Sie schmunzelte, dann steckte Juna das Taschentuch wieder zurück in ihre Jeans. „Wir sehen uns, Raphael", sagte sie zum Abschied und während Juna am Ende des Ganges verschwand fragte sich Raphael, ob sie das Taschentuch häufiger benötigte um ihre Tränen zu trocknen, als sie stets behauptete.
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Uranus ist auch nur ein Planet
Teen FictionMit einer überragenden Körpergröße von einem Meter sechsundneunzig ist das Untertauchen in der Menge Raphaels Superkraft, die er bis zur Perfektion betreibt. Nie hätte er damit gerechnet, dass sich genau das an einem gewöhnlichen Freitagnachmittag...