„Ich hatte einmal einen Bruder." Raphaels Stimme durchbrach die gefräßige Stille, er stellte den leeren Pizzakarton knirschend zu seinen Füßen in den dunklen Kies. Es gab ein flutschendes Geräusch, als Matthi seinen Finger aus den Mund nahm. Er hatte sich das Fett der Pizza von den Fingern geleckt, jetzt wischte er sie mit mechanischen Bewegungen an seiner Hose trocken. Dann war es still.
„Das war es, was ich Juna sagen wollte. Am See, du weißt schon." Raphael stockte, seine Stimme klang weich und dumpf in seinen Ohren. Bilder von dem Nachmittag tanzten vor seinen Augen wie eine heraufbeschworene Fata Morgana. „Oder besser, was ich ihr dann doch nicht mehr sagen wollte." Die schwimmende Badeinsel, das grünblaue Wasser, blonde Haarsträhnen. Bewegt von der Strömung oder nass klebend auf sonnengebräunter Haut.
„Ich hab es bisher nur meiner-", Raphael scharrte mit den Füßen im Schotter. Rica. Ich habe es bisher nur Rica erzählt. Rica, meiner Freundin. War sie das denn überhaupt noch? Matthi hörte damit auf, seine Hände im Innern seiner Hosentaschen zu säubern und sah ihn an. Die Spur eines Lächelns lag auf seinen Lippen und einen Augenblick lang rechnete Raphael fest damit, dass Matthi den Freundinnen-Witz fortführen würde.
Aber es blieb bei diesem Ansatz und Raphael war ihm dafür dankbar. Er konnte sich jetzt nicht auch noch mit der Frage beschäftigen, ob Rica jemals wieder mit ihm reden würde oder nicht.
„Ich hab die ganzen Leute auf Lissas Beerdigung gehasst, die nur ihre Mein herzlichstes Beileid - Karte abgegeben haben", sagte Matthi dann plötzlich und verschränkte seine Hände so fest miteinander, dass die Fingerknöchel knackten. „Aber was will man schon großartig anderes sagen." Er zog kaum spürbar die Schultern hoch. „Es tut mir leid."
Raphael wollte etwas erwidern, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Matthi schien das nicht zu überraschen, zumindest erwartete er keine Antwort. Wahrscheinlich waren schweigende Pausen auf einem Friedhof nicht weiter verwunderlich. „Ich kannte ihn nicht." Noch eine Pause. „Michael. Ich kannte Michael nicht." Michael, der oberste Erzengel, Michael, Bezwinger des Teufels in glänzender Rüstung. Matthi sammelte eine Handvoll scharfkantiger Steinchen vom Boden. Einige bohrten sich mit ihren Spitzen und Kanten in seine Handflächen, andere fielen herunter, noch bevor er sie richtig aufgehoben hatte. „Wahrscheinlich ist es schlimmer, sein Geschwisterkind erst kennenzulernen und dann zu verlieren."
Er sah zu Boden, auf der flachen steinernen Einfassung von Lissas Grab wirkten Matthis langen Beine seltsam fehlplatziert. Langsam fiel Stein für Stein zurück an seinen Platz. „Geburtsurkunde mit Sterbevermerk für Michael Lengsmann. Unwirklich, irgendwie. Die Dokumente lagen in einer kleinen Schachtel, zusammen mit einer winzigen weißen Socke. Ich hab die Kiste durch Zufall gefunden. Meine Eltern wissen bis heute nichts davon."
Raphael rutschte auf Ulrich von Babels Grabplatte herum, ließ den Blick schweifen. Der Friedhof lag ein wenig erhöht, die von Reihenhäusern gesäumten Straßen verschwanden zwischen Baumkronen und blitzten hin und wieder gräulich weiß hindurch. Manche der Gräber waren aufwendig bepflanzt, andere schön hergerichtet oder mühevoll aber armselig von Unternehmen der Grabpflege verunstaltet worden.
„Du solltest sie nicht dafür verurteilen, dass sie es dir nicht gesagt haben. Man geht unterschiedlich-" Matthi zupfte einen Löwenzahn aus dem Kies, „mit der ganzen Sache um." Ein leises Räuspern seinerseits. „Mit dem Tod, meine ich." Raphael nickte langsam. Hatte er es seinen Eltern überhaupt zum Vorwurf gemacht, ihm nichts davon erzählt zu haben? Hatten sie diesen Vorwurf nicht verdient indem sie ihm die Wahrheit doch bis heute schuldig geblieben waren?
„Mein Vater arbeitet bis in die frühen Morgenstunden, hat Lissas Zimmer seit Wochen nicht mehr betreten, während Mama immer noch regelmäßig ihre Wäsche wäscht. Sie soll nicht nach muffigem Schrank riechen, sagt sie." Matthi hob die Mundwinkel, wollte über die Allüren seiner Mutter hinweg schmunzeln und scheiterte kläglich. Zog eine Grimasse während Raphael ihm dabei zusah. Bemerkte, wie Matthis Hände zitterten, die Haut rund um die Fingernägel abgerissen, teilweise mit schorfig dunklen Flecken. „Matteo und Frederik werden sich in ein paar Jahren nicht mehr an ihre Schwester erinnern können. Und ich-" Er atmete ein und presste die Lippen aufeinander. Schluckte.
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Uranus ist auch nur ein Planet
Roman pour AdolescentsMit einer überragenden Körpergröße von einem Meter sechsundneunzig ist das Untertauchen in der Menge Raphaels Superkraft, die er bis zur Perfektion betreibt. Nie hätte er damit gerechnet, dass sich genau das an einem gewöhnlichen Freitagnachmittag...