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Nevada

Perior, 06.10.2014

„Scheiße, was machst du denn hier?" Erschrocken legen sich Ambers Augen auf mich nieder, als ich in unser Zimmer trete. Auf ihrem Gesicht befindet sich ein grünes Tuch, dessen Nasen, Mund und Augen Partie frei liegt, sodass sie weiter ungenügend Chips essen kann. Die Blondine ist Eitel, dass weiß ich und genau deswegen, hofft sie immer wieder darauf, dass niemand sie so zu Gesicht bekommen wird. Aber ich bin oft genug ins Bad geplatzt, um sie in der Wanne zu sehen.


Ich antworte nicht. Ich kann gar nicht antworten, da kommen mir bereits neue Tränen. Tränen von denen ich gedacht habe, dass sie bereits getrocknet sind. Das sie kaum mehr existieren. Denn ich hatte gedacht, dass sie bereits verbraucht waren.

„Hey, Nevada." Ihre Finger ziehen sich das Tuch von ihrer Haut, während sie aus dem Bett steigt und zu mir eilt. Meine Schultern zucken nach vorne, aller Halt ist aufgebraucht, als sie ihre Arme um mich schlingt und mich wortlos in den Armen hält.
Ich habe mir mit vierzehn geschworen nicht mehr wegen meines Vaters oder wegen meiner Mutter zuweinen. Ich habe es mir selber geschworen und seit dem habe ich mich daran gehalten. Ich habe vergessen was es bedeutet eine Familie zu haben, als meine eigene Mutter mich von dem Weihnachtsfoto haben wollte, dass für die Familie ihres neuen Mannes gemacht wurde. Die Zwillinge waren drauf, ihre eigenen Narben und ihre eigene Tochter versteckt. Es ging so leicht über ihre Lippen, wie der heutige Vorfall mit ihr.

Ich habe verstanden, dass ich nicht zu dieser Familie gehöre, ich habe verstanden, dass ich nicht zu der Familie meines Vaters gehöre. Ich gehörte niemanden an und diese Bodenlose Tatsache, hat mich dazu veranlasst niemals wieder wegen dieses Scheußlichen Gefühls, wegen dieser Familie oder meinen Umständen zu weinen. Ich habe gelernt mich damit abzufinden und ich habe gelernt. Gelernt das sie mich doch bloß immer wieder enttäuschen. Die erste positive Nachricht habe ich von meiner Mutter erst wieder bekommen, als sie erfahren hat, dass mit dem Studium begonnen habe.

Mein Herz zieht sich bei all den Erinnerungen, all den erdrückten Schmerz und den neuen Begegnungen zusammen. Ich spüre die Schwere in mir, wie es sich durch meine Adern pumpt und ich nach Luft ringe. Ich bekomme keine Luft, spüre wie Ambers Druck um mich enger wird und ich mich immer weiter an sie schmiege. Es überschüttet mich, alles was ich verdrängt habe, alles was ich versucht habe zu akzeptieren.

Es stürzt auf mich ein.

Perior, 7.10.2014

„Ich werde sie jetzt nicht wecken, du kannst ja später vorbeikommen." Mühsam drehe ich mich auf meinen Bauch und wickle meine Hände um das Kissen, während ich versuche die Stimmen von mir zu schieben. „Ey komm schon. Ich muss wirklich dringend mit ihr reden." Die unbekannte Stimme dringt zu mir durch und lässt mich meine Stirn verziehen, bevor ich mich zurück auf meinen Rücken drehe und gegen die Sonnenstrahlen anblinzle. „Ich kenne dich nicht und deswegen werde ich dich auch nicht zu ihr lassen. Und wenn du wirklich ein Freund von ihr bist, dann solltest du akzeptieren, dass sie Ruhe braucht." Ich schaue zur Tür, wo mir Amber ihren Rücken entgegen streckt. Dunkle Haarspitzen ragen über sie. „Es ist wichtig." Der finstere Ton der Person lässt mich kurz zusammen fahren und selbst Amber presst die Tür noch ein Stückchen zu. Das Bersten des Holzes lässt mein Herz höher schlagen. Ich drehe mich erneut von der Tür weg und ziehe die Decke über meine Schultern. Egal wer es ist, es kann nur ärger geben.

„Scheiße, Mädchen, ich habe keine Zeit dafür." Ambers Schrei lässt mich zurück fahren und in das Gesicht des Mannes blicken, der gestern ebenso dabei war. Blut rauscht durch meine Adern lässt mich panisch meine Augen aufreißen und die Decke von mir strampeln. „Nevada, deine Spielchen sind vorbei, verdammt." Seine Hand greift nach mir, erwischt mich schmerzend an meinem Gelenk, wodurch ich zischelnd nach ihm trete. „Fass mich nicht an! Verschwinde in das Loch, wo mein Vater dich her hat! Aber verschwinde!" Ich schreie, ich trete und schlage um mich. Der Griff von ihm wird stärker, lässt mein Protest sterben.

„Da gehen wir auch hin." Ich streife Ambers panischen Blick, als er mich aus der Tür hinaus schiebt. Trotz allem schafft er mich irgendwie hinaus zu bringen und unter dem leeren Campus zu dem Parkplatz zu bringen.

„Ich schreie den ganzen Campus zusammen, wenn du mich nicht sofort los lässt." Ich winde mich in seinen Armen und drehe mich zu ihm herum. Das provozierende Lächeln lässt mich übel werden. Ihm ist bewusst, dass meine Worte bloß ein Versprechen auf die Leere ist. Ihm ist bewusst, dass ich mir im klaren bin, welches kalte Gefühl mich dort beschleicht. Welch kühles Metall sich dort in meine Hüfte bohrt und welches mich schwarze Punkte fort blinzeln lässt.


„Oh Nevada," Säuselnd tritt er mit seinem Fuß zwischen meine Beine und lässt mich somit einen Schritt nach hinten gehen. Mein Rücken stößt gegen eines der Autos, sein Gesicht schwebt unmittelbar vor meinem. Und wäre nicht noch immer dieses schwere Gefühl auf meiner Brust, so würde ich ihm in sein elendiges Gesicht spucken. „Solange ich diese Waffe besitze, wirst du mir immer gehorchen." Seine Hand schlägt einmal kurz auf meine Wange, wodurch ich erschrocken zurück zucke.

„Was möchte mein Vater von mir?" Hauchend blicke ich ihm in seine Augen. Vergesse die Furcht, vergesse den Schwindel, der bei der aufkommenden Panik stärker wird. „Das wirst du heute erfahren."

„Rodery wir müssen los." Erneut zucke ich zusammen und spüre wie sich das Metall von meiner Haut löst. Sauerstoff gelangt in meine zugezogenen Lungen, während meine Schultern zusammen sacken. „Wir hatten noch einiges zu bereden." Meine Brauen ziehen sich finster zusammen, als ich meinen Blick wieder hebe. Doch statt auf das Selbstgefällige Grinsen zu schauen, erblicke ich strahlend blaue Augen.
Alle Alarmglocken beginnen sich bei seinem Anblick zu lösen, geben schrille Töne ab und lassen meine Erinnerungen soweit zurückspulen, bis ich erneut diese Hände erblicke, die mein Buch aus den Pfützen zieht. Dessen nassen Strähnen wild in sein Gesicht fallen. Dessen blauen Augen starr auf mich gerichtet waren.

Es ist wie ein Film der sich in mir zu lösen beginnt.

Wie ich gefahren war, wie ich bei meiner Mutter war, wie mein Vater mich an dem gleichen Tag aufgesucht hat. Wie am gleichen Abend mein Kommilitone ermordet worden war.

„Oh mein Gott." Wispernd trete ich einen Schritt zurück und schaue von dem Mann zu Rodery. In beiden Gesichtern steht ein Lächeln geschrieben. „Mache sie fahrbereit." Ich kann ihren Worten gar nicht so schnell lauschen, da legt sich Roderys Hand auf meinen Mund und zeitgleich auf meine Nase. Im ersten Atemzug bekomme ich noch genügend Luft, während der nächste bereits in meinen Lungen schmerzt. Immer mehr Panik erreicht mich. Meine Hände greifen nach denen von Rodery, meine Lider werden schwerer. Die Punkte größer. Ich möchte schreien, doch ich kann nicht. Ich möchte weinen, doch ich bemerke nicht einmal die Tränen, die meine Augen verlassen. Ich möchte Kämpfen, doch es war niemals mein Kampf, auf den ich hätte trainieren können. 


Happy Halloween👻

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