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Nevada

Bedacht lasse ich meinen Blick über das Wohnzimmer gleiten, erkenne wie Connor und Liam an der Konsole spielen, erkenne wie Henry über den Karten sitzt. Konzentriert, unnachgiebig, ehrfürchtig. Seine Finger fliegen über die Tastatur des Laptops, dessen Display die Zahlen, Daten, Telefonate ausspuckt, die unser Leben garantieren. Oder es in Gefahr stellen. Täglich sitzt er vor dem Ding, versucht unsere Flucht bis auf die letzte Sekunde hinauszuzögern, unentdeckt zu bleiben, versucht uns die Freiheit zu geben, wobei wir im Goldenen Käfig sitzen und warten. Wir warten die ganze Zeit. Wir warten darauf das wir erwischt werden, dass wir gefangen werden. Verdorben.

Meine Finger trommeln unruhig auf dem Geländer je länge ich in die blauen Augen schaue, die sich zusammengekniffen haben. Vielleicht wäre die angespannte Lage nicht so schlimm, wenn wir etwas von den anderen gehört hätten, aber Xavier ist der einzige der den Kontakt zu Henry hält und das auch nur wegen seiner Schwester. ,,Henry." Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, als ich seine Augen auf mich haften lasse. Als er mich fixiert, als sein Mundwinkel ein Stück nach oben zuckt und ich das zucken meines Körpers spüre. Automatisch klappt er den Laptop zu und kommt zu mir herauf. Es ist meine Aufgabe, die Flucht solange wie es nur geht zu genießen. Und ich genieße jeden Moment, in denen mein Körper nicht schmerzt. In denen ich mein Bein spüre. Meine Gliedmaßen. Mein Herz.

Gewissentlich gehe ich bereits den Flur entlang, bewusst das er mir folgt, dass er es ist der seine Hand um meine Hüfte schlingt und mich bereits nun an sich presst. Bewusst das wir diese Momente nutzen, bevor wir von unseren Entscheidungen und Schicksalen in diesem Leben auseinander gerissen wird. Wieder eine Sache, die sich keiner traut zu sagen. Wieder etwas, dass sich keiner wagt zu denken und doch schwirrt es mir in meinem Kopf herum. Jedes mal, wenn ich in seine blauen Augen blicke. Wenn ich die Trübsinnigkeit und die Hoffnung darin entdecke. Und das ist das schlimmste, Hoffnung. Nach allem was wir durchgemacht haben und nach allem was wir wissen, besitzen wir Hoffnung. Und es schmerzt so sehr, diese fort zu lassen. Es schmerzt so sehr, diese zu zerstören. Es schmerzt so sehr, nach vorne blicken zu müssen, wenn es keine Zukunft gibt. Keine die man selber bestimmen kann, keine die einem das Leben verspricht. Eine Zukunft die ohneeinander verbracht werden muss.

Gedämmt spüre ich seine Finger dessen Druck stärker um mich wird. Spüre wie mir mit einem mal alle Kraft aus den Knochen gejagt wird. Spüre wie Schwer sich meine Knochen anfühlen, wie nicht einmal der Schmerz zu mir gelangen kann. Die Stimme schon gar nicht. Wie sich alles so gedämmt und abgeschottet anfühlt. So schmerzend. Schmerz. Schmerz. Es ist Schmerz. Schlimmer als es jemals ein Körperlicher sein könnte. Es ist ein Schmerz, der mich erblinden lässt. Der mich nicht atmen lässt. Der meine Lungen mit blei füllt. Der jeden Atemzug schmerzen lässt. Schmerz. Er ist überall. Er ist unumgänglich. Er ist der treuste Begleiter in dieser Gott verdammten Welt, die sich nicht einmal selber retten lässt. Die niemanden rettet. Die es nicht zu lässt. Denn die Rettung ist der Tod. Und ich wünschte so sehr Tod zu sein. Keinen Schmerz mehr zu spüren, keine Reue, keine Liebe. Einfach gar nichts. Nichts. Ruhe. Eine Stille. Keine tobenden Gedanken. Keine Alpträume, die mich das sehen lassen, vor dem ich mich fürchte. Denn Durch sie ist so viel grausamer geworden. Es ist nicht mehr die Furcht meinen Vater nie wieder zu treffen. Es ist die Furcht erneut in seine Hände zu gelangen. Der Ekel. Es ist die Furcht erneut von der Decke zu hängen, mein tropfendes Blut zu hören, meinen schwachen Herzschlag zu spüren. Es ist die Furcht die mich Nachts aufschrecken lässt, die mich Henry nur ansehen lässt. Es ist die Furcht, die mich jedes mal wieder zu der Angst bringt. Und die Angst ist der Schmerz. Es ist alles Schmerz. Verbunden.

Weiter drückt die Stimme auf mich ein, während ich mich weiter gegen die Wand presse, daran hinunter gleite. Ich drücke mich dagegen, als würde ich darin verschwinden wollen. Abhauen. Und dabei sind wir in mitten auf einer Flucht. Wir können nicht mehr, als abhauen. Wir können nicht mehr, als flüchten. Wir werden niemals diese Freiheit erlangen.

Und dieser Gedanke nimmt mir die Hoffnung. Dieser Gedanke lässt mich aufschrecken, lässt mich in die blauen Augen blicken. Aufgerissen und voller Sorge sind sie auf mich gerichtet. Voller Wissen was in mir vorgeht, beginnen sie meinen Atem zu kontrollieren. Seine Finger schlingen sich um mein Gesicht, er zieht es an seine Brust. Sein Herz gibt mir die Töne vor, die ich nach singe.

"Komm mit." seine Arme schlingen sich um mich, als ich immer ruhiger werde. Als es bloß noch mein Atem ist der das Haus umhüllt. Nicht mehr die Schreie die meine Ohren noch immer zu betören versuchen. Die mich einnahmen. Von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie ausgelöst habe. Das ich geschrien habe. Es geschieht zu schnell, zu langsam, zu unaufmerksam, als das ich bemerke wie er mich gegen die Badewanne setzt und mir sorgsam das Shirt über meinen Körper streift. Wie er meine Hose von den Beinen streift, wie er mich von den letzten Stücken befreit die mir das Atmen schwerer macht, bis ich endgültig das Wasser um mich spüre. Wie es mich umgarnt. Wie es mich erleichtert.

Wimmernd lege ich meinen Kopf in den Nacken, während seine Finger meinen Hals und mein Kiefer umfassen. Während seine Augen starr auf mich gerichtet sind. Während meine Tränen stumm über mein Gesicht verlaufen.

"Es ist nicht das erste mal, dass du so einen Zusammenbruch hast." murmelt er leise. Noch immer erscheint es mir fremd. Seine Stimme ist fremd und so fern, dass ich meine Finger um sein Gelenk schlinge. Nur um zu wissen, dass er nicht fern ist. Das er bei mir ist. Jetzt und hier.

"Aber es war noch nie so schlimm." Haucht er flüsternd. Meine Augen pressen sich aufeinander, wodurch noch mehr der Salzigen Spuren über meine Wange gleiten. ,,Sie haben mir alles genommen und sie werden mir wieder alles nehmen." Raune ich unmerklich, während ich wieder gegen das Licht blinzle und Henry erfasse. Seine Haut ist bleich, seine Augenringe rot und sichtbar. Ich bin unteranderem der Grund das er Nachts nicht schlafen kann, immerhin habe ich Nachts die Alpträume. ,,Nevada." Wehmütig streichen seine Finger über meine Tränen, wodurch ich meinen Griff um ihn verfestige.

"Wir werden das nicht überleben, Henry. Wir werden sterben." Hastig schüttelt er seinen Kopf, blickt mich weiter eindringlich an. ,,Hör auf, Nevada. Hör auf und vertraue mir." Meine Lippen scheinen versiegelt, als er meine Haare aus meinem Gesicht streicht. ,,Schließe deine Augen."

Meine Stirn legt sich in Falten, als die Worte zu mir durchdringen, als er mich weiter dazu bringen möchte. ,,Vertraue mir." haucht er sanft, wodurch sich meine Lider schließen und ich seinen ruhigen Atem mit meinem vermischt wahrnehme. ,,Suche den Punkt, der dich am verwundbarsten macht. Der dich schwächt, weil du dich davor fürchtest. Und konzentriere dich auf deine Atmung." Ich möchte meinen Kopf schütteln, ich möchte meine Augen öffnen, aber sein Griff wird fester, wodurch ich weiter in der Position bleibe. Und ich suche. Ich suche in der schwärze meiner Tiefe. Ich suche dort wovor ich mich am meisten fürchte, vor dem was mich am meisten schwächt und an das ich eigentlich gar nicht erst denken möchte. ,,Die Hoffnung ist das was keinem genommen werden kann. Vergiss das nicht. Hoffnung nimmt man sich nur selber, wenn man aufhört zu atmen. Wenn man aufhört zu glauben. Und Glaube ist die Kraft unserer stärksten Taten, die wir für unsere Liebe tun. Liebe ist der größte Antrieb, um zu leben. Leben ist mehr als das was wir momentan haben, deswegen brauchen wir Hoffnung."

Zögernd öffne ich wieder meine Augen, spüre seinen Atem an meinen Lippen, spüre das Rasen meines Herzens, welches sich aus der dunklen Kammer gekämpft hat. Spüre wie sich seine Hände in meinen Haaren verfangen. ,,Atme Nevada."

„Atme."

Make Me Yours - Keep breathingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt