Kapitel 2

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Eine Frau, die ihre besten Tage schon hinter sich hatte, strahlte mich an. Sie hatte tiefrote Haare, deren Farbe unnatürlich wirkte. Auf den zweiten Blick entdeckte ich einzelne, graue Strähnchen. Diese Farbe musste wohl natürlich sein.
Blitzend blaue Augen mit tiefen Lachfalten musterten mich freundlich.
„Komm, lass dich umarmen! Liz hat schon so viel von dir erzählt!"
Stutzend umarmte ich die Fremde. Liz musste wohl der Spitzname meiner Großmutter sein. Sie hatte mich und Mum vielleicht zweimal besucht. Und es hatte beide Male in einem Streit zwischen Mum und Elizabeth geendet, während dem ich in meinem Zimmer stumm vor mich hin geweint hatte.
Ich hatte also keinen blassen Schimmer, warum meine Mutter mich so dazu gedrängt hatte, Elizabeth zu besuchen.
„Ich bin Maggie", stellte sich die Rothaarige vor. „Ich bringe dich zu Liz! Max, du trägst doch sicher Annabelles Tasche in ihr Zimmer?", fügte sie etwas drängend hinzu.
Max zog eine Grimasse, machte aber Anstalten, meinen Koffer auch noch durch das Haus zu schleppen.
Währenddessen schob Maggie mich in die Eingangshalle. Ich kam gar nicht mehr aus dem Staunen. Auf blitzblankpolierten Holzdielen lagen mehrere ausgetretene Teppiche. Die blau getäfelten Wände erstreckten sich über zwei Etagen in die Höhe und waren über und über mit Gemälden und Bücherregalen an der Wand gegenüber des Haustür bedeckt. Letztere erstreckten sich bis zur Decke und waren nur noch durch wacklig aussehende Leitern erreichbar. Ein kleiner Durchgang auf der rechten Seite bildete eine unscheinbare Lücke zwischen den Regalen und verbarg eine Holztür. Um den Türrahmen herum ging das Bücherregal weiter. So viele Bücher, so viele Geschichten! Sie alle warteten geduldig darauf, verschlungen und erzählt zu werden.
Mehrere Zweisitzer standen im Raum, sowie Kommoden und gemütlich wirkende Stehlampen, die neben einem gigantischen Kronleuchter das fahle Licht, das durch die langen, hohen Außenfenster fiel, ergänzten.
In diesen wenigen Sekunden, die Maggie mir ließ, um das alles zu betrachten, war meine Kinnlade fast bis auf meine Brust geklappt.
Maggie lächelte mich warm an und bedeutete mir, weiterzugehen. Sie strahlte eine Begeisterung aus, als würde sie dieses Anwesen auch das erste Mal sehen.
Wir durchquerten die große Halle und gelangten durch die versteckte Tür in einen engen Flur, der sich an verschiedenen bunten Holztüren entlang schlängelte und mehrfach abrupt abbog. Es war alles mit gemütlichen Möbeln eingerichtet, so, dass man sich zu zweit zwischen ihnen hindurch bewegen konnte. Altmodische Lampen summten an den Wänden. Ich hatte das vage Gefühl, dass sie niemals ausgeschaltet würden. Hier waren keine Fenster mehr und ihr schwacher Schein war die einzige Lichtquelle.
Spätestens nach der dritten roten Tür war ich mir sicher, im Kreis zu gehen, als der Flur hinter der nächsten Abbiegung plötzlich in einer Sackgasse endete.
Ich fragte mich, ob Maggie sich etwa verlaufen hatte. Wobei mir das sehr unwahrscheinlich vorkam.
Am Ende des Flurs hob sich ganz unscheinbar doch noch eine gräuliche Tür leicht von der blauen Tapete ab.
Sie ließ sich mit einem sanften Knarren öffnen und wir betraten einen hell beleuchteten Raum, der verdächtig nach einer modernen Küche aussah.
Maggie lächelte mir geheimnisvoll zu: „Man muss nur die richtigen Abkürzungen kennen, dann kommt man hier schnell von einem Ort zum anderen."
Ich lächelte schief zurück. Wir waren ja auch nur durch diesen endlosen Flur gegangen, zehntausendmal abgebogen und an zahlreichen Zimmern vorbei gelaufen. Diese Villa war echt gigantisch.
Maggie öffnete eine weitere Tür und dahinter konnte ich das verzierte Holzgeländer einer riesigen Treppe erkennen.
Ein etwas weiter geöffneter Flur erstreckte sich vor mir. Hier befanden sich genauso viele Sessel, Kommoden und Teppiche, wie im vorherigen Flur. Alles passte auf mysteriöse Weise perfekt zusammen.
Wir folgten ihm noch ein kurzes Stück und bogen dann nach rechts ab, wo ich am Ende eines nackten, engen Gangs mit beiger Blümchentapete eine lichtdurchflutete Tür mit Milchglasfenstern entdeckte.
Maggie und ich gingen darauf zu. Kurz davor stoppte Maggie.
„Liz ist auf der Terrasse. Bitte richte ihr doch von mir aus, dass Abendessen in einer halben Stunde fertig ist, ja?", sie tätschelte meinen Arm, drehte sich auf der Stelle um und verschwand hinter der nächsten Ecke, aber das Klacken ihrer Schuhe auf den Dielen hörte ich noch lange, bis eine Tür laut ins Schloss fiel.
Ich zuckte kurz zusammen, drehte mich wieder zur Terrassentür.
Einmal tief durchatmen. Das ist nur deine Grandma, Belle. Was auch immer der Grund ist, warum sie und Mum zerstritten sind, du bist es nicht. Also reiß dich zusammen, das wird schon kein Monster sein!
Ich lachte nervös und stieß die Tür auf.
Mich erwartete ein wunderbarer Ausblick. Hinter dem Hügel, auf dem das Haus stand, erstreckte sich eine traumhafte Landschaft. Durch weite Wiesen und einen angelegten Park strömte ein kleiner Fluss, in der Ferne erkannte ich einen tiefgrünen Wald, der sich über den ganzen Horizont erstreckte, und ich meinte sogar, das Glitzern eines Sees ausmachen zu können.
„Beeindruckend, nicht wahr?"
Sofort ruckte mein Kopf zur Seite. Zu meiner Linken saß eine energisch aussehende alte Dame auf einer angestaubten Sonnenliege. Die Augen geschlossen, genoss sie die Abendsonne. Ihre vollen grauen Haare waren zu einem aufwändigen Zopf geflochten. Ihre blasse Haut bot einen starken Kontrast zu ihrem dunkelgrün-blau karierten Bleistiftrock über der dunklen Feinstrumpfhose, in den eine beige Bluse gesteckt worden war.
Ihre Augen öffneten sich und begutachteten mich, genauso eisblau wie meine eigenen Augen.
„Es ist schön, dich wieder zu sehen, Annabelle." Ihre klare, direkte Stimme drang bis ins Knochenmark. „Du weißt ja, was deine Mum von mir hält, aber es ist toll, dass sie auf meinen dringenden Wunsch, Zeit mit dir verbringen zu können, eingegangen ist. Möchtest du dich setzen, Annabelle?", schlug sie vor, ließ es aber eher wie eine Forderung klingen.
Etwas verwundert ließ ich mich auf der Sonnenliege rechts von ihr nieder. Die Liege war sperrig, aber ich ließ mir nichts anmerken.
„Wie war die Fahrt von London?" Sie schloss wieder die Augen.
„Äh..." Ich räusperte mich. „Lang. Die Straßen sind hier nicht mehr so gut ausgebaut."
Elizabeth schmunzelte. „Hierhin verschlägt es nun auch nur Wenige."
„Maggie hat mich gebeten, dir auszurichten, dass das Abendessen in einer halben Stunde fertig ist", meinte ich.
„Tatsache!", rief Elizabeth nach einem Blick auf eine alte Taschenuhr, die sie um den Hals wie eine Kette trug.
Obwohl ihr Outfit vielleicht bizarr klingen mochte, es passte alles zusammen und das hatte irgendwie Stil. Genauso wie ihr ganzes Haus.
„Also, Annabelle, liest du gern?", fragte sie und ein neugieriger Schimmer blitzte in ihren hellwachen Augen auf.
„Belle", murmelte ich.
„Pardon?", meinte Elizabeth.
„Belle. Klingt besser", erwiderte ich leicht trotzig.
Ein glockenhelles Lachen erklang.
„Nur ein kleiner Test", hörte ich sie zu sich selbst sagen. Es war aber so leise, dass ich mich auch verhört haben konnte. Trotzdem lief mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Ich war mir recht sicher, dass sie diesen zusammenhangslosen Satz gesagt hatte.
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Na, was haltet ihr von Elizabeth?
Vielen Dank fürs Lesen :))

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt