Kapitel 66

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Winzige Glassplitter durchdrangen meine vom Sekt genässte Wollstrumpfhose. Ich war komplett erstarrt und mein Herz pochte wie verrückt.

Ganz vorsichtig sah ich mich um und blickte in entsetzt verzerrte Gesichter.

Als ich sie sah, traf es mich wie ein Schock.

Eine Frau mit den langen grauen Haaren. Direkt neben dem Klavier.

Sie besaß ihre unverkennbar spitzen Schultern. In ihrer rechten Hand eine Pistole, die von dem in den Himmel abgefeuerten Schuss noch rauchte.

Ihre Augen waren giftgrün, das erkannte ich über die ganze Terrasse hinweg. Doch so richtig angsteinflößend war die eine rote Strähne, die aus ihren Haaren hervorstach.

„Maggie?", flüsterte ich entsetzt. Einen Augenblick später hörte ich eine bekannte Stimme.

„Dorothy?" Arthur sprach leise, aber die ganze Gesellschaft hörte ihn.

„100 Punkte für Miss Richardson", war das erste der schrecklichen Dinge, die sie sagen würde. Sie verzog ihre faltigen Gesichtszüge zu einem unheimlichen Grinsen.

Ängstlich ließ ich meine Arme sinken, die immer noch ein imaginäres Tablett trugen.

Wie war das möglich? Wieso stand die freundliche, gutmütige Haushälterin vor einer Menschenmenge in 1940 und bedrohte sie mit einer Waffe?

Wie aus einer Trance erwacht fing plötzlich eine Dame an, zu schreien. Um sie herum schrien auch andere, eine Lady fiel sogar in Ohnmacht. James stand schützend vor meiner Großmutter, das sah ich aus einem Augenwinkel.

Arthur schaute in meine Richtung, sein Blick zeigte Verwirrung und ein gewisses Entsetzen.

Ein zweiter Schuss brachte alle zum Schweigen, bis auf einen spitzen Schrei.

Die herrische, aber herzensgute Frau, die vorhin für mich eingesprungen war, die Frau, die meiner Vermutung nach Köchin war – sie lag mitten auf der Terrasse, und ein großer roter Fleck breitete sich innerhalb von Sekunden auf ihrer Brust aus. Sie röchelte nach Luft.

Erschrocken hielt ich mir eine Hand vor den Mund, um nicht loszuschreien. Es wurde nach Luft geschnappt, doch niemand brachte sich dazu, einen Ton zu sagen.

„Wenn wir das geklärt hätten." Maggie, gut betagt und vermutlich Ende Sechzig, richtete die Waffe auf den Kopf des Klavierspielers, der vor ihr saß. Dieser wimmerte erbärmlich. Sie packte ihn beim Kragen.

„Jeder von euch, der eine Waffe trägt, legt sie auf das Klavier. Oder dieser junge Mann hier", sie packte ihn noch fester und er schrie vor Angst kurz auf, „muss die Konsequenzen erdulden."

Ganz langsam bewegten sich einige wenige und legten kleine Pistolen und Taschenmesser auf den blutbesprenkelten Lack des Flügels.

Wie als würde sie Gefallen an dem Vorgang finden, lächelte sie.

Maggie, meine letzte Verbündete aus der Gegenwart, lächelte bei diesem Anblick.

„Ihr geht alle zurück ins Haus", befahl sie. „Ihr alle, bis auf Annabelle Richardson, James Richardson, Elizabeth Hawthorne und natürlich unseren Hauptdarsteller, Arthur Spencer."

Lizzies Mutter schluchzte laut auf. „Nimm mich, du Verrückte!", schrie sie. „Lass mein Baby in Ruhe!"

„Oh, glaub mir, du wirst nicht verschont. Im Gegensatz zu deiner Lizzie. Sie ist meine Freundin. Sie wird leben", erklärte sie beinahe nüchtern.

„Was wird das?", rief ich. Der Lauf der Pistole richtete sich direkt auf mich und meine Beine wurden ganz wackelig.

„Belle, mein Kind... Ach, wüsstest du nur. Du würdest direkt neben mir stehen, du würdest..." Ihr Blick wirkte kurzzeitig verloren. „Wenn du den Sinn hinter dem hier sehen wirst, dann wirst du mich verstehen."

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt