Kapitel 49

631 72 16
                                    

„Anna! Anna, wach auf!"

Im Halbschlaf spürte ich, wie jemand an meiner Schulter rüttelte. Murrend drehte ich mich zur Seite. Meine Ruhestörerin wollte nicht nachgeben.

Schließlich rang ich mich dazu durch, meine Augen zu öffnen. Nur, um zu entdecken, dass mich eine mir völlig fremde Person anstrahlte. Sie hatte rehbraunes Haar und grünblaue, große Augen. Ich schätzte sie ungefähr auf mein Alter ein.

Vor Schreck schrie ich laut auf und sprang so gut es ging zurück. Die junge Frau blickte verwirrt drein.

Auf den zweiten Blick schien mir so einiges an ihr suspekt. Wie der knielange, beige Rock über der rüschenbesetzten Bluse. Oder ihre weißen Strumpfhosen in klotzigen, hässlichen Schuhen. Sie sah so aus, als wäre sie einem Film über Mädcheninternate in den 1950ern entsprungen. Ihre Haare waren zu einem strengen Zopf geflochten und ihr Gesicht nur von Sommersprossen, keinem bisschen Schminke, bedeckt. Ihre hübschen Augen standen recht weit auseinander und sie besaß eine kleine Stupsnase über ihren schmalen, gekräuselten Lippen.

„Was... was machst du in meinem Zimmer?", fragte ich perplex. Eigentlich hatte das „Wer bist du" heißen sollen. Aber ich war mir nicht sicher, mit wem ich es hier zu tun hatte und ob diese Person gut auf diese Frage reagieren würde. In das Zimmer einer Wildfremden einzubrechen stank für mich verdächtig nach psychischen Problemen.

„Erinnerst du dich nicht, Anna? Die Feierlichkeiten! Und wieso bist du eigentlich noch nicht angezogen? In einer halben Stunde treffen wir ‚Oma' und ‚Opa' im Foyer. Otto wird auch da sein! Willst du nicht perfekt dafür aussehen?" Sie zwinkerte mir zu, als wären die Dinge, die sie gerade gesagt hatte, vollkommen selbstverständlich.

Irritiert wiederholte ich die beiden Worte, die ich weder kannte noch verstanden hatte.

„'Omahh'? ‚Ohpa'?", versuchte ich die Worte nachzuahmen.

„Bist du schon wach, Anna? Warte, bleib liegen und leg schon einmal deine Digit an. Ich suche dir dein Kleid für die Zeremonie heraus."

„Meine... Digit? Anna!?", sagte ich eher zu mir selbst. Wer war dieses Mädchen und was machte sie bitteschön in meinem Zimmer? Träumte ich noch immer?

Drückend meldete sich meine Blase zu Wort. Ich schlurfte in Richtung Badezimmer, einem Ort, in dem mich zwei Überraschungen erwarten würden.

Erstens, ich erkannte das Badezimmer nicht wieder. Die rostige Badewanne und die danebenstehende Dusche waren einer Kombiwanne gewichen, die durch eine Glasscheibe von der Höhe meines Knies aufwärts den Raum teilte. Die nicht gerade vertrauenserweckende Toilette war von einer hochmodernen Variante ersetzt worden. Ein Schafspelz bedeckte den kalten Fliesenboden und ließ mich schaudern.

Die zweite Überraschung erwartete mich bei meinem ersten Blick in den Spiegel und machte meinen Verstand endgültig wach. Ich erkannte mich selbst nicht mehr wieder.

Ich konnte mich gerade so davor bewahren, erneut aufzuschreien, indem ich mir die Hand vor den Mund hielt. Eine weiße Hand. Auf mein weißes Gesicht.

Schockiert ging ich näher an den Spiegel heran.

Meine eisblauen Augen waren noch da, ich erkannte sie als einziges in dem Bild, das sich mir bot. Sie wurden umrahmt von einer bleichen, für meinen Geschmack krankhaft wirkenden Hautfarbe. Wohlgeformte, puppenartige Gesichtszüge schauten mich an, ganz anders als die mir Bekannten. Eine gerade, schmale Nase zwischen leicht rosigen Wangen. Gerade, viel schmalere Lippen als die Meinen. Mein Zahnfleisch war eine Farbnuance heller und meine Zähne wirkten gelblicher. Die schwarzen, dicken Haare waren zwar geblieben – nun hingen sie mir aber fast bis zur Brust über die Schultern. Sie waren glatt.

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt