Kapitel 20

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Augenblicklich klärte sich meine Sicht. Unglaublich erleichtert schaute ich mich um. Ich blickte geradewegs in die dunklen Augen eines mir schon halbwegs bekannten Gesichts. Arthur Spencer.

Als ich realisierte, dass er immer noch auf meine Antwort wartete, räusperte ich mich.

„Ja, ja. Alles gut", beschwichtigte ich ihn. Er wirkte nicht überzeugt.

„Sie können nicht immer wie ein halbtoter Schmetterling in meinen Gemächern auftauchen und von mir erwarten, dass ich Ihnen abnehme, es gehe Ihnen gut."

Schmetterling? Fand er mich etwa hübsch? Nein, er wollte sicher nur höflich sein. Was für eine merkwürdige Redewendung.

Nachdem ich mich gesammelt hatte, stand ich auf und stellte mich ihm trotzig gegenüber.

„Mir geht es gut, ob Sie mir glauben wollen, oder nicht." Vorsichtig klopfte ich mir den Staub von meiner Jeans. Wie war der dorthin gelangt?

Arthur Spencer wirkte etwas entrüstet, setzte dann aber ein belustigtes Gesicht auf. Er nahm einen kantigen Gegenstand aus dem dünnen Trenchcoat, den er trug.

„Das haben Sie beim letzten Mal hier verloren. Ein ausgezeichnetes Buch, muss ich sagen."

Schnell ergriff ich es. „Danke." Im Gegensatz zu ihm kam ich mir so unverschämt unhöflich vor. Ich hatte nichts dabei, wo ich es hinein packen konnte.

„Könnten Sie es noch eine Weile länger für mich aufbewahren?", bat ich ihn.

„Nun, geheimnisvolles Mädchen aus dem Nichts, was halten Sie davon, wenn ich Sie zu einem kleinen Spaziergang einlade und Sie mir erzählen, wer Sie sind und was Sie hier wollen?"

„Ähm, 'tschuldigung, aber..." Mist. Wie konnte ich jetzt sagen, dass ich meinen jugendlichen Großvater kennenlernen wollte, der in etwa sechzig Jahren sterben würde?

Nach einer kurzen Pause, die wie eine halbe Ewigkeit schien, versuchte ich es noch einmal.

„Ich habe einen dringenden... ich muss mit James Richardson sprechen. Das ist... wichtig", druckste ich herum. Andererseits wollte ich mit ihm mitgehen, ihn kennenlernen.

Arthurs Miene verfinsterte sich und seine Augen wurden kalt, wie die Augen von jemandem, der entweder gefühllos oder sehr kontrolliert war. Es war das erste Mal, dass seine Tagebucheinträge, sein Kummer und seine anschließende Gefühlslosigkeit hinter der höflichen Fassade sichtbar wurden. Wenn auch nur für einen kurzen Moment.

„Alternativ gehe ich auch gern zu Sir Earl of Hawthorne. Ihre Entscheidung, Miss."

Der Satz wirkte so beiläufig, dass mir eiskalt wurde. Das warme Gefühl in meinem Bauch war augenblicklich verschwunden.

„Drohen Sie mir?", hakte ich ungläubig nach.

„Haben Sie etwas zu verbergen?", konterte er.

Auffordernd hielt er mir seinen Arm hin. Anscheinend sollte ich mich einhaken. Ein Teil von mir sträubte sich, ein anderer war neugierig. Neugierig, diesen widersprüchlichen Menschen kennenzulernen.

Seufzend hakte ich mich ein. Ich wusste ja nicht, was das alles für Folgen haben würde.

„Wenn jemand fragt, Sie sind meine Begleitung für den Ball heute Abend. Sie kommen aus, naja, Ihrem Akzent nach zu urteilen, Südengland. Es ist für Sie eine große Ehre, hier sein zu dürfen. Sie kommen aus dem Hause Beaufort."

Er musterte mich kurz.

„Hoffen wir, dass Ihre Kleidung nicht auffällt."

Ohne ein weiteres Wort schritten wir in den Flur. Wie Schatten huschten Angestellte mit ehrfürchtigem Blick an uns vorbei. Wow. Hier hatte das zwanzigste Jahrhundert aber auch noch nicht wirklich angefangen.

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt