Kapitel 58

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Als ich wieder zu mir kam, fühlte sich irgendetwas falsch an. Wie ein eingeklemmter Nerv oder ein fehlendes Körperteil – ein unbeschreiblicher Schmerz, der doch irgendwie gar nicht da war.
Ein Husten entwich meiner Kehle, trocken und kränklich.
„Annie? Was ist los gewesen?" Max. Natürlich war er immer derjenige, der mich nach meinen Anfällen erweckte.
Nach einem schmerzhaften Räuspern konnte ich ihm antworten. „Ich weiß nicht... Es fühlt sich wie ein Juckreiz an, den man nicht stillen kann, als würde mir etwas fehlen..."
Mittlerweile war es 00:21:57:
Ich blinzelte die Schwärze weg.
Es war 00:22:01:
Nein. Das konnte nicht sein. Nervös tastete ich nach meinem inneren Sinn, nach meiner Uhr. Sie schien wie gelähmt, verlangsamt.
00:22:28 Uhr. Montag, 29. Juni 2015.
Ein ersticktes Schluchzen entwich mir. Sie waren weg, die Millisekunden waren weg. Ich war nicht mehr ganz ich, Annabelle war um ein Stück verschwunden und Anna gewichen.
„Sie sind weg!", versuchte ich schluchzend zu erklären. Die Zahlen, die mich seit über siebzehn Jahren begleitet hatten, die Ziffern, die mich von einer stinknormalen Armbanduhr abhoben – sie waren verschwunden. Ins Nichts.
Ich fühlte mich wie eine Meerjungfrau, deren Schwanzflosse amputiert worden war und heulte wie ein kleines Kind. Es tat weh, so schrecklich weh, und gleichzeitig war ich kein bisschen verletzt.
Unverständlich tätschelte Max meinen Arm, durch den Tränenschleier sah ich seinen besorgten Gesichtsausdruck. Vermutlich hielt er mich für geisteskrank, aber das war mir egal. Er war fake, ich war fake, diese ganze Welt war fake und würde bald nicht mehr existieren. So wie meine Millisekunden würde sie mit einem Mal verschwinden und Platz machen für die Realität.
„Anna, rede mit mir! Was ist verschwunden?" Er schien sich immerhin bemühen zu wollen, stand aber gleichzeitig auf, um im Raum auf und ab zu laufen.
Dabei konnte er ja nicht wissen, dass ich mich in diesem Moment am liebsten allein in meinem Bett in London zu einer Kugel zusammengerollt hätte und meinen Frust ausgeheult hätte.
„Du verstehst das nicht...", sagte ich und drehte mich von ihm weg. „Zumindest nicht in dieser Version", fügte ich leise hinzu.
„Was meinst du damit?" Er saß nun wieder direkt neben mir und hatte natürlich jedes Wort verstanden.
„Ähm..." Verdammt. Ich wischte mir die Tränen von den Wangen und hoffte, dass sie nun endlich aufhören würden, zu fließen. So sentimental kannte ich mich selbst gar nicht. Das musste eindeutig an Annas Einfluss liegen, an dieser verwöhnten Zicke (ja, ich konnte mein Alter Ego nicht wirklich leiden).
„Ich will schlafen", verlangte ich.
Max schüttelte seinen Kopf und legte sich neben mich auf den Teppich. Das Licht mochte keiner von uns beiden ausschalten, dafür war der kahle, große Raum zu unheimlich.
„Aber morgen schuldest du mir eine Erklärung."
„Mhm", erwiderte ich.
Diesen Satz hasste ich mittlerweile. „Darf ich das Buch wiederhaben?"
Ich wusste, dass er es an sich genommen hatte. Er seufzte und drückte mir den kantigen Gegenstand in die Hand. Mit beiden Händen klammerte ich mich daran fest und versuchte zu verstehen, warum es geschehen war. Warum die Millisekunden verschwunden waren.
Die genaue Uhrzeit wusste ich noch, wie eingefroren in mein Gedächtnis sah ich die letzte 59. 23:59:59:59 Uhr.
Anscheinend war es um Mitternacht geschehen, der einzigen Zeit, an der alle Zahlen und der Tag zurückgesetzt werden. Dann, wenn das ganze Zählen von vorn beginnt.
Nur heute war es anders gewesen. Heute war die 59 nicht zu zwei Nullen geworden, sondern zu Leere, zu Nichts.
Lag es an Anna?
Das schien mir am wahrscheinlichsten. Durch meine Transformation zu dem grässlichen Püppchen musste sich etwas geändert haben.
Schon lange hatte ich angenommen, dass meine besondere Fähigkeit, manchmal zum Verteufeln, manchmal zu meinem Vorteil, von der väterlichen Seite kommen musste. Es konnte gar nicht anders sein, denn meine Mutter zeigte keine Anzeichen von einer Uhr in ihrem Kopf.
Vor wenigen Tagen hatte sich mein Verdacht bestätigt, als die Zeitlosen praktisch erklärt hatten, mein Vater sei einer von ihnen.
Anna wiederum hatte einen Vater, im Gegensatz zu mir. Es war Max' Vater, der auch ihrer war. Kein Magischer, kein Zeitloser, einfach nur ein normaler Mensch.
Dementsprechend war Anna auch nicht zur Hälfte übernatürlich und meine Kräfte, wo ich doch ihren Körper gekidnappt hatte, schienen von ihr blockiert zu werden. Ich spürte, dass ich nicht nur die blöden Millisekundenstellen der Uhr verloren hatte, sondern auch ein wenig von mir selbst, von den Kräften allgemein, die mich so besonders machten. Und ich wusste einfach: Je länger ich hierbleiben würde, desto schwächer würden meine Kräfte werden, sodass ich nie wieder zurückreisen könnte.
Jetzt war also klar, dass ich nicht nur die Welt retten sollte, sondern auch, dass meine Zeit kontinuierlich ablief, wie der Sand in einer Sanduhr rieselte und ein kleines Häufchen voll verbrauchter und unwiederbringlicher Zeit erzeugte.
Halleluja.
Ich durfte also kein bisschen mehr Zeit damit verplempern, zu schlafen oder gar...
Meine Augen fielen zu, ohne dass ich es wollte. Während meine Glieder sich schlaff anfühlten, schrie ich in meinen Gedanken, dass ich mich doch wehren solle, aufstehen solle, das Buch lesen...
Schließlich fiel ich in einen unruhigen Schlaf, unvermeidbar und extrem unpraktisch.

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt