Kapitel 55

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Es kostete uns eine knappe halbe Stunde, bis die Nervensäge endlich aufgab und sich demotiviert auf einen Stapel gebrauchter Oberhemden setzte. 
„Ich werde mal sehen, inwieweit ich Ma beim Vorbereiten des Festessens helfen kann.“ 
Innerlich machte ich Freudensprünge. 
„Möchtest du mitkommen?“ 
Nein. Niemals. 
„Ähm, mir geht es nicht so gut. Mein Kopf fühlt sich etwas schwer an.“ 
Theresa rümpfte die Nase. „Schön, dass du deine Schwäche zeigst.“ Sie stand leicht pikiert auf und verließ den Raum. Was war das gerade gewesen? 
Egal. Immerhin konnte ich mich jetzt darauf konzentrieren, die Bibliothek zu durchsuchen. 
Ich wartete eine halbe Minute, um bloß nicht auf die Nervensäge zu treffen, und eilte dann über den Flur. Eine weitere Ablenkung konnte ich jetzt nicht gebrauchen. 
Die Glastür zu der sterilen Version einer Bibliothek ließ sich leicht öffnen und ich fühlte mich wie in einem Kaufhaus. Leise Musik, die an Spätromantische Militärwalzer erinnerte, erfüllte den gigantischen Raum. Geordnete, metallene Regale erstreckten sich bis zu den Fenstern. Doch die wirkliche Lichtquelle, die alles in ein weißliches Licht tauchte, war ein riesiges Deckenfenster aus Milchglas. Die Lichtverhältnisse erinnerten mich an die eines modernen Museums. Nichts in den Raum war bunt, weder die gräulichen oder gläsernen Wände, der kalte Steinboden, noch die Buchrücken. Jeder glich dem anderen, eine graue Einheit, die nichts mit dem bibliomantischen Zauber von Büchern zu tun hatte. 
Einerseits wirkte der Raum durch seine Beleuchtung riesig, andererseits war seine Farblosigkeit, seine Geruchlosigkeit und seine schreckliche Musik einengend. 
Sich etwas verloren fühlend, blickte ich mich nach Anzeichen eines Ordnungssystems um. Mit einem Blick durch das Glas auf den Flur vergewisserte ich mich, dass niemand mich beobachtete. Ich stand hier wie auf dem Präsentierteller und das schien der Sinn des ganzen Glas zu sein. 
Links von mir prangte ein beleuchtetes A am ersten Regal, weiß und unscheinbar. Rechts ebenso. Die nächsten Reihen waren unbeschriftet, bis ein B auftauchte. 
Mit leisen Schritten und einigen argwöhnischen Blicken zum Flur machte ich mich auf den langen Weg zum Buchstaben R. Ich war mir sicher, das gesuchte Buch unter Richardson, Annabelle finden zu können. 
Unter diesem Buchstaben ließ sich ein einziges Regal finden. 
Ängstlich vergewisserte ich mich ein letztes Mal, ob ich beobachtet wurde, vor allem, weil die Musik mit einem Mal so schrecklich leise wurde. Mit einem unguten Gefühl im Bauch begab ich mich in die Reihe zu meiner Linken. Es fühlte sich wie etwas Verbotenes an, vielleicht auch nur dadurch, dass die Bibliothek so leer war. Eigentlich erwartete man doch, dass in einem Haus voller Menschen, von denen einige so aussahen, als wären sie exzessive Büchernarren, wenigstens einer an solch einem schrecklichen Morgen die Zuflucht in Geschichten suchte. Mich hatte dieses Gefühl zumindest überkommen. Ich wollte dieser Welt wortwörtlich entfliehen – und das war nicht möglich, ohne etwas über sie zu erfahren. 
Egal, wie dämlich und auffällig mein Vorhaben zu sein schien, jetzt war es zu spät, um aufzugeben. 
Ich atmete einmal tief durch. Das half jedoch nicht, die Gänsehaut zu verbannen. 
Aufgeregt las ich die Buchrücken. 
Kein Buch hatte einen Titel. Nur Zahlen standen darauf. „0178449“ neben „3017485“. Das einzige, was die Bücher unterschied, waren die Namen, die in einfacher grauer Schrift darunter standen. Ich las den Namen „Raabe“. Der klang schon so furchtbar deutsch. 
Meine Schritte führten mich tiefer in den Gang hinein. Anders als in der Realität war er vollständig ausgeleuchtet. Ich wusste also, dass mich keine unangenehmen Überraschungen erwarteten. Hätte das jemand einmal meiner viel zu hohen Herzfrequenz erzählt. 
Eilig las ich die Namen und arbeitete mich immer näher an „Richardson“ heran. 
„Ribbeck, Richamond, Richter…“, murmelte ich leise. 
Da war kein Richardson. 
Nervös las ich die Buchrücken durch. Dann die darüber, die darunter, die hinter mir. Nirgendwo stand Richardson. Nicht eins der Bücher trug meinen Namen. 
Wie war das möglich? James hatte doch ausdrücklich gesagt, dass ich besagte Informationen hier finden würde. 
Verwirrt runzelte ich die Stirn. Hatte er womöglich vergessen, wo er das Buch wirklich hingestellt hatte? Er hatte so sicher gewirkt, so, als wäre seine Information wichtig. 
Wie, um mich zu verhöhnen, spielte das Orchester den Höhepunkt des Stückes. Ehrlich gesagt hatte ich Musik ohne Text noch nie wirklich etwas abgewinnen können. 
„Fuck you too!“, rief ich leise. 
„Anna?“ 
Erschrocken zuckte ich zusammen. Ein Blick den Gang hinunter ließ mich aufstöhnen. 
„Folgst du mir, Theresa?“, fragte ich die Nervensäge. Einen Moment lang wirkte sie fast ertappt, dann fasste sie sich und setzte ein viel zu unschuldiges Gesicht auf. 
„Wie kommst du denn darauf?“ 
„Ähm, ich weiß nicht, vielleicht, weil du mir seit heute Morgen nicht eine Sekunde Privatsphäre gegeben hast?“ 
Wie hatte sie mich vor allem so schnell hier gefunden? Ich hatte angenommen, dass sie eigentlich länger damit beschäftigt gewesen wäre, ihrer Mutter zu helfen, oder irgendwie so etwas. 
Theresa senkte ihren Blick und bekam fast glasige Augen. Sie fing doch jetzt nicht an zu heulen? 
„Hörst du, ich will einfach nur einen Augenblick für mich sein, okay?“, erklärte ich. 
Und dann fing sie an, die gespieltesten Krokodilstränen der Geschichte der Menschheit zu vergießen. Wir beide wussten, dass sie nicht echt waren. Trotzdem war uns beiden klar, dass ich reagieren musste. Langsam bekam ich ein ganz ungutes Gefühl, was dieses Mädchen anging. 
„So war das nicht gemeint“, behauptete ich. Mein Blick blieb eiskalt, als ich sie in meine Arme schloss. 
„Danke, Anna. Lass uns endlich aus diesem Männerraum verschwinden!“ Ihre Stimme klang kein bisschen mehr nach der Heulattacke, die sie soeben inszeniert hatte. 
„Mir ist aufgefallen, dass du deine Digit gar nicht trägst, Liebes.“ Sie klang beinahe wie eine besorgte Tante. Aber nur beinahe, denn in ihrem Blick schwang fast so etwas wie eine Drohung mit. Mit ihren Worten schob sie mich endgültig aus dem gläsernen „Männerraum“. 
„Oh, wirklich?“ Schauspielerei war noch nie mein Talent gewesen. Jetzt musste ich mich wohl oder übel auch daran versuchen, denn dieser kleinen Schlange konnte man offensichtlich nicht trauen. 
„Das muss ich wohl versäumt haben, nach meiner Dusche. Ich wollte den Staub von draußen loswerden.“ Das klang nachvollziehbar und ich musste zugeben, ich wurde immer besser darin, mir merkwürdige Ausreden auszudenken. 
„Welcher Staub?“ Theresa wirkte aufrichtig irritiert. 
„Na, den Smog von draußen!“ 
„Smog? So etwas Grausiges gab es doch nur vor der Befreiung, unter den korrupten Kapitalisten!“ 
Ich kniff meine Augen zusammen. Das Weltbild der jungen Frau war so verdreht, dass es schmerzte, ihr zuzuhören. 
„Du – du…“ Sie schnappte nach Luft. „Du vergleichst doch nicht etwa die neue Welt mit…“ 
Nun schien sie ängstlich. 
„Nein, nein!“, beteuerte ich. Ich musste sie so schnell wie möglich loswerden, bevor ich mich noch um Kopf und Kragen redete. 
„Anna, bist du dir sicher, dass nur dein Kopf schmerzt? Du verhältst dich den ganzen Tag schon so komisch!“ Ihr Blick wirkte mehr abschätzig als besorgt. 
„Nichts ist los, Theresa.“ Dieses Hin und Her fing an, mir auf den Geist zu gehen. 
Der Nachmittag gestaltete sich auch danach nicht einfacher. Ich schaffte es natürlich nicht, meine Fake-Cousine abzuwimmeln. Einige Male war ich knapp davor, mich zu verplappern. Obwohl es mir zwar gelang, die Fassade aufrecht zu erhalten – Theresa war eindeutig misstrauisch geworden. Und das war ganz und gar nicht gut. 
Zum Abend verlangte sie, dass ich mit ihr zum „Festessen“ gehen würde. Was auch immer gefeiert wurde, ich hoffte darauf, dort auch James wiederzusehen. 
Unter der Aufsicht des Mädchens hatte ich meine SmartWatch wieder angelegt. Das Ausmaß des Verrats ihrerseits, oder besser gesagt ihrer Verlogenheit, verstimmte mich. Missgelaunt folgte ich ihr ins Erdgeschoss. Dorthin, wo ich mein tägliches Frühstück eingenommen hatte, wo meine Großmutter ihre Zeitung gesenkt hatte, um mir ein Lächeln zu schenken. Ein Ort, an dem Maggie Unmassen an Nahrung auf den Tisch gestellt hatte. 
Nun ein kahler Raum mit grünlicher Tapete. Riesige Fenster hatten die Wand zum Innenhof ersetzt, durch die ein gräuliches Licht fiel. Es fehlte jegliche Wärme oder Helligkeit, die von der Sonne gekommen wäre. Ich fühlte mich wie unter einer riesigen Kuppel mit Milchglasscheiben. 
Die Wände schmückten keine Rüstungen mehr, sondern riesige Banner mit verbotenen Symbolen, die in ihrer schlichten Schrecklichkeit entsetzten. 
Auf den dunklen Dielen stand ein langer, gläserner Tisch, gedeckt mit teurem Geschirr. 
Die Menschen von heute Morgen waren alle in kleineren Gruppen versammelt. Keiner von ihnen wirkte so erschöpft wie ich. Naja, sie hatten auch nicht den ganzen Tag lang die Nervensäge ertragen müssen. Oder Angst haben müssen, ob man ihre gänzlich andere Herkunft erkennen würde. 
Ich beeilte mich, von Theresa wegzukommen und gesellte mich kurzerhand zu Max und einigen älteren Damen. Sie unterhielten sich oberflächlich über Max‘ Zukunftsaussichten. Irgendetwas mit Militär und Öffentlichem Dienst. Bei dem Gedanken, dass Max jemals Soldat wäre, der gleiche Junge, der stundelang im Gras lang und melancholische Musik hörte, der Junge, der innerhalb kürzester Zeit Gefühle für ein Mädchen entwickelte, das so anders war als er selbst… Ich könnte ihn mir niemals in einer Uniform vorstellen. Und schon gar nicht mit einer Waffe in der Hand. 
„Was hältst du davon, Anna? Dein Bruder als Held?“ Eine der Damen mit einer aufwändigen Hochsteckfrisur und einer viel zu tiefsitzenden Brille gab mir das Wort. 
„Ach, ich werde, ähm, wenn er das macht, werde ich Max vermissen.“ Das stimmte immerhin, ich vermisste meinen Max. 
„Jetzt werde doch nicht sentimental, Ann!“, warf Max ein. „Mir wird es gefallen.“ 
Ich bedachte ihn mit einem skeptischen Blick. Mein „Bruder“ schaute eindringlich zurück und ich bekam das Gefühl, dass seine Worte nicht ganz der Wahrheit entsprachen. 
„Schließlich ist es ja auch Tradition“, wandte eine weitere Frau ein. Sie war ein wenig jünger und sprach mit einem harten Akzent. „Für all ihre Vergehen ist es das Mindeste, dass die Hawthornes etwas zurückgeben. Und ihr seid das, dreckige kleine Hawthornes.“ Ihr Tonfall war giftig, doch Max ließ sich nichts anmerken, ebenso wenig die offensichtlich englischen Damen. Sie lächelten sogar leicht. 
Entrüstet schaute ich zu Max. Er wirkte ruhig, fast schon beseelt. Und schließlich traute auch ich mich nicht, ein Wort des Widerspruchs einzulegen. 
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Irgendwie gab es gestern Probleme beim Hochladen dieses Kapitels. Hier ist es jetzt endgültig.

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt