Kapitel 50

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„Nun, „Fräulein", was ist heute Euer Problem?" Scherzhaft deutete er eine Verbeugung an.

„Frouline?", wiederholte ich leise. Ich hatte echt keine Ahnung, wieso die beiden so komisch redeten. Und wieso sie von mir erwarteten, dass ich sie verstehen würde.

„Oh mein Gott, Anna! Du hast ja noch nicht einmal deine Digit an!"

Kopfschüttelnd wandte er sich zu meinem Nachtisch und nahm einen kleinen Gegenstand in die Hand, um ihn mir zu übergeben.

Auf den zweiten Blick sah ich, dass es sich um eine Uhr handelte. Ihr Display war vollkommen schwarz, sie zeigte keine Ziffern oder Zeiger. Nur mein merkwürdiges Spiegelbild spiegelte sich in der dünnen Glasfläche.

„Leg sie an! Ann, das ist langsam nicht mehr lustig."

Hektisch und ein wenig ungelenk legte ich, bezeichnende Armbanduhrgegnerin, das Band an. Sobald es einrastete, geschah etwas Merkwürdiges. Die Glasfläche war mit einem Mal farbig und wurde zu einem kleinen Bildschirm. Überrascht hielt ich ihn vor meine Augen und las die winzigen Details. Oben rechts in der Ecke drehte sich etwas, das mich an ein Kreuz erinnerte. Durch die Pixel war es jedoch verschoben und erinnerte mich eher an ein verbotenes Symbol aus Geschichtsbüchern. Darunter war tatsächlich eine Uhr eingeblendet, eine mit eleganten Zeigern.

„Anna! Zieh endlich dein Kleid an!", befahl mir Max mit einem genervten Unterton.

„Ja, ja...", gab ich nach, mit meinen Gedanken immer noch bei der SmartWatch die anscheinend meinem neuen Körper zu gehören schien.

Als ich mich schließlich Max' Willen gebeugt hatte und das hässliche Stück Stoff angezogen hatte, hetzte er mich schon aus der Zimmertür.

„Wir sind spät dran! Selbst wenn du jetzt keine Zeit mehr für eine angemessene Frisur hast... Ich bin mir sicher, Mama wird noch etwas daran richten können."

Verwirrt ließ ich mich auf den Flur schieben, nur um die dritte Überraschung des Tages zu sehen.

Der Flur hatte sich vollkommen verändert. Der Boden war immer noch mit Dielen bedeckt, die jedoch blitzten und ein wenig dunkler waren als die, die ich kannte. Das Schockierende waren aber die Wände. Manche Mauern sahen noch genauso aus, wie ich sie kannte, mit der rosa Tapete, der Bordüre und so weiter. Andere sahen aus wie die Mauern einer Ruine, Als wären sie einfach eingebrochen.

Zu meiner Verwunderung hatte man auf die halbzerstörten Mauern einfach passgenau neuen Beton platziert. Diese rohe Fassade bot einen starken Kontrast zu der teilweise vorhandenen Tapete. Trotzdem hatte der graue Beton seinen Charme, es war der Zauber einer Ruine, der mit fast moderner Architektur kombiniert worden war.

Während ich hinter Max hinterherrannte (seine Schrittlänge hatte sich leider kein bisschen verkleinert), entdeckte ich die weitaus gravierenderen Änderungen.

An manchen Stellen des Hauses waren die altbekannten Mauern Glasscheiben gewichen. So sah man direkt auf eine neu wirkende und ganz anders geordnete Bibliothek. Sie schien lichtdurchflutet durch riesige Fenster in der Decke. Dort, wo sich eigentlich das dunkle Satteldach befinden müsste. Alle Bücher, die ich mit einem schnellen Blick erhaschen konnte, sahen jung und unbenutzt aus.

Trotz allem hatte sich diese neue Version Hawthorne Manors eins bewahrt: ihren schrecklichen Grundriss.

Als wir nach Ewigkeiten an einer riesigen Marmortreppe ankamen, musste ich bei dem Gedanken an den verschwundenen samtenen Teppichbelag beinahe schmunzeln.

Optisch hatte sich hier so einiges verändert, aber trotzdem war das Grundgerüst gleich geblieben.

Es mag vielleicht so klingen, als hätte ich das Ganze ziemlich cool genommen. Oh nein, genau das Gegenteil war der Fall gewesen. Innerlich war eine Panikattacke auf die Nächste gefolgt und ich war unheimlich stolz, dieses Gefühl nicht nach außen getragen zu haben. Ich hatte keine leise Ahnung, was gerade geschehen war oder immer noch passierte. Das Plausibelste schien mir, dass man mir einen Streich spiele. Doch der Aufwand, der dafür benötigt gewesen wäre, ließ mich schnell von dieser Idee Abstand nehmen. Das ganze Haus umbauen? Niemals.

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt