Kapitel 56

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„Setzt euch, setzt euch!", hörte ich eine laute, weibliche Stimme. Elizabeth scheuchte alle zu ihren Plätzen. Was mich beunruhigte: Dieses Mal stützte sie nicht ihren Ehemann, tatsächlich war er nicht anwesend. 
Ich beeilte mich, neben meinem neuen Bruder einen Platz zu finden, denn trotz seines neuen Verhaltens war er eins der wenigen vertrauten Gesichter. 
Rechts von mir ließ sich – natürlich – die Nervensäge nieder. 
Elizabeth blieb als Einzige stehen. 
„Ich bitte Sie alle, das Fehlen meines Mannes zu entschuldigen. Als zweitältestes Mitglied der Familie Hawthorne möchte ich heute die Ehre übernehmen, das Festessen zu eröffnen."
Ein Gemurmel legte sich kurz auf den Tisch, das jäh von dem Klang eines Messers gegen ein Glas gestoppt wurde. Alle Blicke drehten sich zu Henning, dem älteren Deutschen. Er nickte Elizabeth aufmunternd zu.
„Wie jedes Jahr ist es uns eine Ehre, die Gäste willkommen zu heißen. Und ich möchte abermals betonen, dass die Bergmanns längst keine Gäste mehr sind. Sie sind Bewohner dieses Hauses, Freunde, Familie. Sie haben uns gerettet vor der ewigen Verdammnis. Sie tragen unsere Bürde mit uns und zeigen, wie wertvoll die neue Ordnung ist. Wie eine Erlösung war es damals, vor fünfundsiebzig Jahren, als endlich der letzte Widerstand in meiner eigenen Familie gebrochen war. Ich schäme mich für meine Vorfahren, meine Eltern, für ihren Starrsinn und ihre Kurzsichtigkeit.
Ich weiß, dass auch mein geliebter Ehemann und ich Schuld in uns tragen, wie auch meine Kinder, Enkelkinder und sogar meine Urenkelkinder nach ihnen es tun werden. Umso dankbarer bin ich dem wundervollen Führer, dass er uns Gnade geschenkt hat. Zu seiner Zeit, während der Zeit der Irritationen, bis zur Zeit seines Nachfolgers.
Jedes Jahr feiern wir unsere Befreiung von den Lügnern und korrupten Politikern der alten Welt. Die Siegeswoche ist längst zum Symbol der Freiheit geworden. Genießt dieses Essen. Auf Fünfundsiebzig weitere Jahre unter der gnädigen Herrschaft des Führers."
Schüchtern wurde auf den Tisch geklopft. Essen wurde aufgetragen, doch ich bekam es nur aus dem Augenwinkel mit.
„Max, wo ist James?", fragte ich vorsichtig, indem ich mich zu ihm hinüberbeugte.
„Hast du Oma nicht gehört? Er fehlt!" Er runzelte seine Stirn. „Außerdem, was soll die Frage jetzt?"
„Ach, nichts", gab ich nach. „Ich wollte nur... vergiss es."
Der Abend flog nur so an mir vorbei. Teilnahmslos aß und trank ich, ohne zu schmecken schluckte ich. Das Essen wurde ein rein mechanischer Vorgang, während meine Gedanken in die Leere wanderten. Eine Einsamkeit überkam mich, die kaum in Worte zu fassen war.
Am Ende des schrecklich langweiligen Essens, gerade als alle dabei waren, aufzustehen, nahm Max mich beiseite.
„Ann, wir sollten reden. Dein Verhalten", er schaute beinahe nervös zur Seite, „ist nicht gerade angebracht. Vor allem, wenn unsere Cousine..." Sein Satz endete in der Leere.
Alarmiert schaute ich zu ihm auf. Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, dass auch er dem Ganzen nicht viel abgewinnen konnte.
„Lass uns hochgehen", schlug ich ausdrücklich vor. Max nickte nur.
„Hey, ihr zwei!" Nein. Nicht schon wieder.
Mein Bruder gähnte herzhaft, als er Theresa erblickte.
„Tut mir leid. Ich bin müde, was auch immer du vorhast", wandte er ein.
„Ich auch", bemühte ich mich, zu sagen.
„Wie schade", sagte sie mit einer aufgesetzten Schmolllippe. „Dann morgen." Ich war ein wenig verwundert, dass sie uns so schnell gehen ließ.
Max und ich lösten uns so bald wie möglich los und gingen schweigend in den ersten Stock.
„Ich komme zu dir", erklärte er und ging kurzerhand in einen Raum, der wenige Türen vor Meinem lag. Natürlich hatte er nicht mehr das Privileg, im Erdgeschoss zu wohnen.
Aufgeregt, was Max vielleicht wusste, begab ich mich in meinen eigenen Raum. Als erstes legte ich meine Digit ab. Glücklicherweise schien das Ding nur eingeschaltet zu sein, wenn es um den Arm gelegt war. Zur Sicherheit legte ich es jedoch in mein hübsches, neues Badezimmer, drei fette Handtücher als Schalldämpfer daraufgelegt.
Ich musste nur vier Minuten und neun Sekunden warten, bis Max erschien. Prüfend schaute er an mir herunter und lächelte dann leicht.
„Anna, wir sollten über das weitere Vorgehen reden. Und dein Verhalten ist viel zu auffällig."
„Ähm, was meinst du?" Wovon war jetzt die Rede?
„Meine Freunde planen das seit Monaten. Und nur weil ich dich eingeweiht habe, heißt das nicht, dass du es verderben kannst." Sein Lächeln wurde ein wenig steif.
„Es tut mir leid Max, könntest du mir den Plan noch ein letztes Mal erklären?" Ich brauchte Informationen. Jetzt.
Max schaute umsichtig zu allen Seiten. Und setzte sich schließlich neben mich auf mein Bett.
„Du weißt doch, dass es nicht sicher ist, darüber zu reden", flüsterte er. „Wir könnten sterben. Oder Schlimmeres könnte passieren, wenn wir entdeckt werden."
Wieso klang es gerade so, als ob mein Fake-Bruder in irgendeine Widerstandsaktion eingebunden wäre?
„Ich weiß. Aber – ich mache mir Sorgen. Bitte, nur noch einmal", bettelte ich.
„Na gut", seufzte er und senkte seine Stimme noch ein wenig mehr, obwohl dies fast unmöglich schien.
„Am Mittwoch, am letzten Tag der Siegeswoche, wenn das Kriegsende gefeiert wird, gibt es im gesamten Land Anschläge auf wichtige politische Orte, Familien, Mahnmale. Und wir haben die Ehre, Hawthorne Manor mit all seinen verlogenen Bewohnern in die Luft zu jagen. Die Bergmanns, unsere falsche Mutter, die sich nur für sich selbst interessiert."
Hass lag in seinen Augen, ein ganz und gar unschöner Anblick in den grauen Augen, die all ihre Unschuld verloren hatten.
„Unser Land wird wieder unser Eigen! Wir sind endlich wieder Menschen, Helden! Die Welt wird uns feiern, wenn wir sie erst befreit haben!" Nun wirkte er beinahe fanatisch.
„Aber nicht alle hier sind schlecht. James...", wandte ich ein. Er machte mir beinahe Angst.
„Dieser alte Mann... Er hat aufgegeben, als er hätte kämpfen sollen. Ihn segnet sowieso bald das Zeitliche."
„Das ist kaltblütig", raunte ich zurück.
Sein Blick wurde weicher.
„Ich weiß. Ich mag es nicht, all das zu tun. Aber kannst du dir eine Welt vorstellen, in der wir mit erhobenem Kopf aus der Tür gehen können? Eine Welt, in der wir wirklich sehen können, was die Welt ausmacht? Wo wir reisen können? Und nicht nur in die Kolonien, sondern auch über die Grenze hinaus? Ins Verbotene Land? Ich frage mich, was dort ist. Was sie vor uns versteckt halten."
„Ja, ich kann es mir vorstellen", sagte ich ehrlich, vielleicht eine Spur zu ehrlich. Wir beide kämpften für die gleiche Sache. Nur eben nach unseren Möglichkeiten. Er, der sich verzweifelt nach etwas sehnte, wovon er keine Ahnung hatte und was er vermutlich nie erreichen würde, und ich, die wusste, was auf dem Spiel stand. Ich, die alle Möglichkeiten hatte, und immer noch tatenlos hier herumsaß.
„Ich möchte die Schande von uns Hawthornes nicht mehr tragen, verstehst du?", erklärte er nun in etwas lauterer Stimme.
Ich hielt kurz inne, um nachzudenken.
Das war es!
„Max, du bist ein Genie!" Dankbar fiel ich ihm um den Hals.
„Was habe ich getan?", murmelte er in meine Haare.
„Du hast mir geholfen, das Rätsel zu lösen. Danke!"
Hawthorne. Das war es gewesen. Ich war eine Hawthorne. Mein Name war Annabelle Hawthorne, und nicht Richardson. Zumindest dachte James das. Er hatte meinen wahren Namen wohl vergessen, oder ich hatte ihn ihm nie genannt.
Mein wahrer Name war Annabelle Hawthorne, weder Anna noch Richardson oder sonst etwas.
„Annabelle Hawthorne", erklärte ich Max mit vor Freude geweiteten Augen.
„Wer ist das jetzt schon wieder?" Der Widerstandskämpfer in ihm schien langsam reichlich müde.
„Ich", rief ich aus und zeigte auf mich. Begeistert von mir selbst sprang ich auf und rannte los. Aus der Tür hinaus, ab in die Bibliothek.
Sie war dunkel, im Gegensatz zum verlassenen Flur. Alle anderen schienen noch bei dem grotesken Festessen zu verweilen. Nur die Buchstaben an den einzelnen Regalreihen warfen einen mysteriösen Schimmer auf den Raum. Es sah fast so aus, als würde irgendein Notstromaggregat für die Beleuchtung sorgen.
Die Reihen lagen bald hinter mir, doch diesmal war mein Ziel einige Meter weiter vorn.
Zu meiner Rechten stand das erste H und ich brauchte nicht lange, eine ganze Reihe an Hawthornes auf den farblosen Buchrücken zu finden.
„Was machen wir bitteschön hier?", hörte ich eine keuchende Stimme.
Abrupt drehte ich mich um und sah die Silhouette eines hochgewachsenen jungen Manns, die von der spärlichen Beleuchtung wie mit einem Heiligenschein umgeben war.
„Du hast mir einen Schrecken eingejagt", flüsterte ich Max zu.
„Ich war die ganze Zeit hinter dir!" Er sah empört aus.
„Jetzt ist kein guter Zeitpunkt für Diskussionen. In der Bibliothek war ich vorhin nicht erwünscht."
Seine Kinnlade kippte herunter. „Du warst vorhin in der Bibliothek? Allein? Sag mal, möchtest du eigentlich..." Anstatt seinen Satz zu beenden zog er seinen Zeigefinger wie ein Messer über seine Kehle.
Entsetzt starrte ich ihn an. War das wirklich ein Vergehen gewesen?
Ängstlich wandte ich mich wieder den Büchern zu. Während Max ungeduldig von einem Fuß auf den anderen wippte, versuchte ich, die Buchstaben zu entziffern. Gar nicht so einfach bei fast vollständig erloschenem Licht.
„Angus Hawthorne", murmelte ich. „Ja! Annabelle!"
Da war das Buch. Ich hatte Recht gehabt, Max und ich hatten es herausgefunden.
Zügig griff ich nach dem schmucklosen Einband und drückte es meinem Komplizen in die Hand.
„Lass uns hier schnellstens verschwinden", schlug er vor und diesmal widersprach ich nicht. Es lag etwas Unheimliches auf dem Raum, so, als müsste gleich etwas Schreckliches geschehen. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter.
Doch trotzdem war ich froh. Endlich hatte ich einen richtigen Anhaltspunkt, der mich näher zu meinem Vorhaben brachte: in die Vergangenheit zurückkehren. Wenn ich wenigstens wusste, was geschehen war, dann... Dann wüsste ich wenigstens, was schiefgegangen war. Was ich ändern musste. Damit ich nicht mehr im Dunkeln tappte, was mein ganzes Leben betraf. Ich wusste zwar, dass dieses eine graue Buch nicht all meine Fragen beantworten würde, aber es schien mir am sinnvollsten, es in die Hände zu bekommen. Schließlich eröffnete sich mir keine andere Lösung. Das Universum meinte es wohl nicht gut mit mir. Oder die beschissenen Zeitlosen, die mich hier so komplett allein ließen. Mit dem Buch würde ich wenigstens die Möglichkeit haben, zurückzukehren. Irgendeinen Hinweis musste es darin geben, damit...
„Anna, Max?" Wir beide erstarrten. 
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Moin! Es gibt mich noch 😂 Momentan wird fleißig weitergeschrieben und ich bin entschlossen, dieses Projekt nicht aufzugeben! Das Ende ist mittlerweile in greifbarer Nähe und ich fände es zu schade, mich von Alltagsstress und Schreibblockaden überlisten zu lassen...
Also, hier ist das erste Kapitel seit viel zu langer Zeit! Danke an alle neuen und alten Leser, die bis hierher mich unterstützt haben und phänomenale 1.000 Votes gesetzt haben! Fühlt euch gedrückt!
LG buecherkatzeee

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt