Kapitel 67

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„Weitergehen", befahl sie. „Kein Blick zurück oder ich schieße."

Mit wackligen Beinen drückte ich Lizzies Hand. Ihr liefen stumme Tränen über die Wange und ich hoffte für sie, dass sie in wenigen Stunden dieses Erlebnis nicht mehr erleidet haben würde – wenn ich sie alle irgendwie gerettet hätte.

Zugegeben, das war illusorisch. Zuerst musste die Maggie hier vor mir außer Gefecht gesetzt werden. Dann müsste ich Maggie in 1940 finden, und...

Eine Geschichte aus meinem Zeitlosen-Traum fiel mir ein.

Nur der Ausweg in meine Gedanken, in meine Pläne, ließ mich der Gegenwart entfliehen.

Ein junges Mädchen mit ihrer Tochter in London. Aufgenommen von Wissenschaftlern. Der Mann vermutlich im Krieg gestorben...

„Maggie", sagte ich leise und schluckte. „Darf ich etwas fragen, bitte?"

Sie seufzte theatralisch. „Du lernst ja sowieso nicht, zu schweigen."

„Hängt das mit den Zeitlosen zusammen?"

„Ach, jetzt verstehst du langsam!" Ich hörte ihr Grinsen in den Worten. Derweil umgaben uns die ersten Bäume des Waldes. Von hier war es nicht mehr allzu weit bis zu unserem Ziel. Wenn ich Maggie doch nur zum Reden bringen könnte, wenn ich sie ablenken könnte...

James und Arthur waren deutlich stärker als sie. Wir mussten eine Chance gegen sie haben.

„Was haben sie dir denn erzählt, Annabelle? Sie verseuchen ihre Kinder viel zu gern mit Halbwahrheiten." Ihre Stimme klang herausfordernd.

„Sie-sie sind Wissenschaftler, haben sie gesagt, verdonnert dazu, in einer Zwischendimension zu verweilen. Alle fünfzehn Jahre können sie von dort entkommen und..."

„Lügner!", rief Maggie. „Alles Lügner."

„Warum sind sie Lügner?", hakte ich nach.

„Ich stelle die Fragen, Annabelle. Und ich mag es dir gern beweisen, denn du bist keineswegs die Erste. Deswegen bin ich hier, um dem Theater ein Ende zu setzen."

Verwirrt schaute ich zu meiner Großmutter herunter. Für sie musste all das noch verwirrender sein. Ganz leise, kaum vernehmbar, hörte ich, wie das kleine Mädchen eine Melodie summte. Der Anblick war viel zu rührend und mir stiegen beinahe wieder die Tränen in die Augen.

„Die Fünfzehn-Jahre-Lüge also. Weißt du, diese spezielle Lüge ist ganz schön vertrackt, denn sie gilt für unsereins, die Zeitspringer. Keineswegs für sie."

„Was bedeutet das?", hauchte ich.

„Versuchen wir es anders. Wann, nach ihren Erzählungen, hat es sie aus der echten Welt in die andere Dimension verschlagen?"

Ich überlegte einen kurzen Moment. Waldgeruch umfing uns alle und beruhigte mich ein wenig. Maggie redete mit mir, und das hieß vielleicht, dass ich irgendwie aus der Misere herauskommen konnte – wenn ich nur die richtigen Worte fand.

Es war ein Spiel mit dem Feuer, das bei der Explosion einer Atombombe freigesetzt wird. So fühlte es sich jedenfalls an.

„1953", beantwortete ich ihre Frage behutsam.

„Ja, diese Zahl stimmt meist. Und wann wurdest du geboren? In welchem Monat welchen Jahres?"

„April 1998", sagte ich und ein kleiner Kopf links von mir sah mich entsetzt an. Meine Hand wurde losgelassen.

Hinter mir ertönte nur das schreckliche Lachen. „Ja, Annabelle, der Teufel steckt im Detail.
Wenn du im April geboren wurdest, dann musst du bei einer durchschnittlichen, neunmonatigen Schwangerschaft im Juli gezeugt worden sein, habe ich da Recht?"

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt