„Unter den Bezeichnungen finden sich kleine Nummern. Ab Reihe 17 findest du Romane, davor hauptsächlich Lyrik und Drama. Sachbücher habe ich hier nicht, die sind in anderen Räumen. Ganz hinten, hinter der letzten, also der 58. Reihe, findest du Vitrinen mit besonders wertvollen Exemplaren. Wenn du ein Buch herausnimmst, merk dir die Reihe aus der es kommt und stelle es wieder in die Reihe zurück. Wo genau, ist egal."
„Hast du diese Bücher alle gelesen?", wollte ich wissen.
„Ich hatte viel Zeit in meinem Leben", seufzte Elizabeth. „Alle habe ich trotzdem nicht geschafft. Wie du wissen solltest, deine Familie wohnt seit acht Generationen hier und alle acht Generationen haben Bücher gesammelt."
Ich war sprachlos. Hier musste ein ganzer Urwald an Papier liegen.
Und ich fragte mich was aus der restlichen Familie geworden war. Wieso nur Elizabeth hier wohnte und wieso Mum und ich anscheinend die letzten Nachkommen waren, wenn wir doch von so einer reichen und prunkvollen Familie abstammten.
„Ich bin in Reihe 12, links. Suche dir gern ein paar Bücher aus. Hinten, bei den Vitrinen ist ein schöner Leseplatz."
„Okay", antwortete ich zögerlich. Ich war noch immer etwas baff ob der Fülle des Raums.
Langsam ging ich die Gänge entlang und das Gewicht der unterschiedlichsten Einbände mit ihren Geschichten schien mich in der Dunkelheit zu erdrücken. Irgendwann, in Reihe 39, blieb ich stehen. Auf dem Schild zu meiner Linken stand „Thriller". Die ersten Einbände, die ich sah, wirkten so, als würden sie durch Blut geschwenkt worden sein. Warum nicht.
Ich hielt die Laterne gegen die bunten Buchrücken und ging ein paar Meter in den schmalen Korridor, der beidseitig mit Büchern gefüllt war. Willkürlich griff ich nach einem ausgelesenen Buch mit dem nicht sehr vielsagenden Titel „Ein kalter Winter". Etwas Besseres - oder Beliebigeres - würde ich auf die Schnelle vermutlich nicht finden, also nahm ich mir voller Vorfreude das Buch und ging den Mittelgang weiter entlang zu einer Gruppe von Vitrinen mit aufgeschlagenen Büchern. Helle Fenster lagen hinter gemütlichen Sesseln.
Unruhig nahm ich Platz, bereit, es noch einmal mit den Büchern zu versuchen und mich vollständig auf diese Geschichte zu konzentrieren. Bitte lass das Buch spannend sein, betete ich. Wenn die Geschichte zu erbärmlich wäre, zu einfach oder auch nur zu unglaublich, würde der Zauber, der mich nach all der Zeit wieder eingefangen hatte, bald wieder verlassen. Aber es fühlte sich richtig an, hier, auf diesem wunderschönen Landsitz mit den traumhaften Parks und Feldern und dem mysteriösen Wald, einer wunderbaren Kulisse für das ruhige Ambiente dieses Hauses und diesen Bergen von altem Papier.
Ich schlug die erste Seite auf. Die verschnörkelten Buchstaben „Ein kalter Winter" prangten als einziges auf dem vergilbten Papier. Ich schaute auf die Copyright-Seite. Das Buch war echt alt, es war von 1931 von einem Z. James, ein anscheinend unbekannter Autor oder ein Pseudonym.
Dann begann ich zu lesen. Die Geschichte war gar nicht mal so übel, es ging um ein Mädchen, dass in den Zwanzigern in New York lebte und dort mit dem Mord von ihrem Vater konfrontiert wird. Sie stand im Verdacht, ihn getötet zu haben und man wusste nicht, ob sie schuldig oder unschuldig war. Außerdem wurde sie von einem komischen Schatten verfolgt - fast so wie ich - und es schien sich etwas zwischen ihr und ihrem Psychologen zu entwickeln, der sie wegen Depressionen behandelte. Es war nicht so aufgezwungen, wie die meisten Geschichten, die ich für die Schule hatte lesen müssen.
Die ersten zwanzig Seiten waren hart, aber dann hatte ich mich an die ungewohnte Sprache gewöhnt. Völlig begeistert machten mich die schnörkeligen Seitenzahlen und die verzierten Kapitelanfänge. Bis sich Elizabeth eine Viertelstunde später zu mir gesellte, hatte ich schon dreiundvierzig Seiten gelesen. Ich war in meinen Lesewahn zurück gefallen. Zumindest für eine kurze Zeit.
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Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne Manor
ParanormalAls Annabelle erfährt, dass sie ihre Sommerferien bei ihrer Großmutter verbringen soll, ist sie nicht gerade begeistert. Elizabeth wohnt nämlich isoliert, umgeben von nichts als weiten Feldern und Natur. Und sie ist, laut Belles Mutter, der Teufel...