Kapitel 5

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Mitten in der Nacht wachte ich frierend auf.

Es war genau 01:38:59 Uhr.

Ich zog die Decke bis zu meiner Nase hoch, als ich ein Geräusch hörte. Und dann noch einmal. Ein Poltern, von draußen.

Meine Augen gewöhnten sich langsam an die komplette Dunkelheit.

Durch das Fenster zog erschreckend kalte Luft hinein. Murrend stand ich auf und schlurfte hinüber, um es zu schließen.

Auf einmal war das Geräusch wieder zu hören, dazu jetzt ein Klirren, so als würde eine Glasflasche zersplittern.

Draußen sah ich eine Lampe leuchten, ein Schatten huschte daran vorbei und schleuderte etwas auf den Boden. Ein Klirren.

Was war da draußen los? Wer stand da mitten in der Nacht und zerdepperte irgendetwas?

Ein leiser Aufschrei, gefolgt von einem Fluchen erklang.

Eindeutig eine männliche Stimme.

War das Max? Was suchte er hier um diese Uhrzeit? War er etwa besoffen?

Erst, als die Person sich darauf setzte, sah ich die Bank, auf der die alte Laterne stand. Jetzt schien Max eindeutig eine bernsteinfarbene Flüssigkeit zu trinken, aus einer Flasche, die noch ganz wirkte. Ich erkannte seinen hellblonden Haarschopf, bei genauerem Hinsehen.

Was hatte der schon wieder? Lag das an dem komischen Verhalten von Maggie und Elizabeth? Oder hatte er noch ganz andere Probleme?

„Verdammt! Fahr zur...zur Hölle!", rief er, stand auf und trat mit voller Wucht gegen die Bank, welche ächzte.

„Was wollt ihr von mir? He?", brüllte er in den Himmel.

Mittlerweile musste er auch Maggie und Elizabeth aufgeweckt haben. Was schrie der so herum? Es war gottverdammte Schlafenszeit!

„Lass' mich in Ruhe!" Die Worte klangen nun wirklich gelallt. „Kann's nich so sein, wie es gerade war? Verdammte Scheiße, kann's nich... kann's nich einfach alles so bleiben?"

Noch etwas müde wollte ich das Fenster schließen. Was sollte es mich schon kümmern, was der für Probleme hatte. Vor allem so früh am Morgen – oder so spät am Abend.

Dann traf es mich wie ein Schlag. Er regte sich anscheinend über etwas auf, das sich geändert hatte. Er musste mich meinen. Ganz sicher. Ich war die einzige Änderung in seiner Idylle. Und das fand er anscheinend zum Kotzen, so sehr, dass er sich hier betrank. Den ganzen Tag war er so unfreundlich gewesen, wahrscheinlich weil er sich seine Fake-Großmutter nun zum ersten Mal mit jemandem teilen musste.

Kalte Wut stieg in mir auf. Was bildete sich dieser Schnösel eigentlich ein?

Ich war Elizabeths Enkelin und hatte alles Recht, hier zu sein. Er nicht.

„Ich hass...ich hasse sie!", rief er etwas leiser wie als Bestätigung zu meiner Vermutung. Okay, er hasste mich. Warum auch immer.

Hier waren so einige Dinge ziemlich falsch. Erst die ganze Geheimnistuerei um Max, dann Elizabeths etwas skurriles Verhalten, dieser komische Vorfall auf der Treppe, und jetzt das?

Ich wollte einfach nur nach Hause.

„Diese Schlampe!", lallte Max gerade.

Jetzt reichte es mir.

„Manche Leute wollen schlafen, du Vollpfosten!", brüllte ich hinunter und knallte das Fenster zu.

Glücklicherweise schien es zu wirken. Es blieb mucksmäuschenstill vor meinem Zimmer.

Das ließ mich aber mit der Frage zurück, warum Max mich hasste. Was hatte ich ihm denn, in den paar Stunden, die ich ihn kannte, schon getan?

Ich war vielleicht nicht gerade sehr nett gewesen, aber das hier hatte ich nicht verdient. Er war ja auch nicht gerade aufgeschlossen gewesen.

Was hatte ich Max angetan?

Tränen stiegen mir in die Augen, wie bei einem Kleinkind. Mit einer hastigen Bewegung wischte ich sie weg.

Immer noch fröstelnd schlüpfte ich in einen Oversize-Hoodie und mummelte mich in mein wohlduftendes Bett ein. Mit einem Lächeln erinnerte ich mich an den wunderbaren Ausblick und die endlosen Weiten des Geländes. Hier gab es sicher viel zu entdecken, und ich würde ihm bestimmt aus dem Weg gehen können.

Ich würde nicht weinen. Und morgen würde ich diesem Idioten klar machen, wie bescheuert er sich verhielt.

Am Morgen weckten mich Sonnenstrahlen und ich war kurz irritiert, wo ich mich befand, denn über mir befand sich ein aufgestickter Sternenhimmel.

Dann erinnerte ich mich; Himmelbett, Hawthorne Manor, Elizabeth, ... Max. Der mich hasste.

Das unangenehme Gefühl in meinem Bauch kehrte zurück.

Es war 8:53:44 Uhr und ich entschloss mich dazu, aufzustehen.

Optimistisch wegen des guten Wetters riss ich die Fensterläden auf und hielt Ausschau nach den Überresten von Max gestrigem Trinkgelage.

Die Bank, auf der er gestern gesessen hatte, entdeckte ich zwar, darauf stand auch eine mitgenommen wirkende Laterne, jedoch war keine Spur von Glasscherben zu sehen.

Ich zog mir schnell ein hellblaues Sommerkleid an, da der Tag schon wieder wie ein traumhafter Junitag schien.

Knapp zur vollen Stunde verließ ich mein Zimmer, als auch schon ein leiser Gong erklang, aus der Richtung, in der sich der Weg zur Treppe befand.

Bei Tag waren die zeitlosen Flure etwas weniger unheimlich. Trotzdem rannte ich fast die Gänge hinunter, um dem Klang der Uhr zu folgen.

Sie würde ja nur neun Mal schlagen, dachte ich. Und ohne sie würde ich den Weg nie finden.

Ab und an stieß ich fast gegen Kommoden oder Stehlampen, einmal war ich falsch abgebogen. Wieso war ich auch in diesem Labyrinth von Fluren untergebracht?

Schließlich kam ich keuchend an der großen Treppe zum Stehen, just in dem Moment, als die Uhr aufgehört hatte, zu schlagen. Puh. Das war anstrengend gewesen.

Mein Magen fing an zu knurren. Frühstück war jetzt angebracht.

Grob erinnerte ich mich noch, wo der Speisesaal lag, aber ich war ziemlich erleichtert, als ich Maggie am Fuße der Treppe entdeckte.

„Guten Morgen!", rief sie mir fröhlich zu.

„Morgen", lächelte ich zurück.

Ich sprang die Treppen hinunter und ließ mich auf einen einfachen Smalltalk mit Maggie ein, während wir an mir bekannten Türen zum großen Saal gingen. Da war die dunkle Tür mit den Eisenscharnieren, direkt gegenüber von der babyentengelben Holztür, zwei Abbiegungen weiter war dann endlich die mysteriöse grüne Tür zum großen Saal.

Beim Hineingehen empfing mich ein angenehmer Duft nach Bacon und Rührei. Elizabeth schien Zeitung zu lesen, der Platz schräg rechts von ihr, auf dem gestern Abend Max gesessen hatte, war leer.

„Ach, guten Morgen, Belle! Hast du gut geschlafen?"

Die Zeitung knisterte und dahinter kam Elizabeth zum Vorschein, die über ihre Lesebrille zu mir schielte.

„Ja, das Bett war echt gemütlich. Es war so... still, wie es in der Stadt gar nicht möglich wäre", erklärte ich wehmütig. Den Vorfall mit Max verschwieg ich. Darüber wollte ich mir jetzt nicht noch länger den Kopf zerbrechen.

„Das ist doch schön! Ich weiß nicht, was du gern zum Frühstück isst, du kannst dich einfach bedienen. Falls dir irgendetwas fehlt, gib mir einfach Bescheid."

Ich aß eine große Portion Bacon mit Rührei und im Anschluss zwei Pfannkuchen, die Maggie frisch zubereitet hatte. Elizabeth erzählte gerade etwas über die Fehltritte von Premierminister Cameron, als die Tür aufging.

Max kam hinein.

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt