Kapitel 71

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Der Lärm ebbte ab, verschwand zu einem kleinen stechenden Kopfschmerz. Das Weiß wurde dumpfer und wich der Dunkelheit. Zahlen in meinem Kopf nahmen Gestalt an.

19:14:41 Uhr, Mittwoch, 29.06.1955 war es geworden.

Mein Körper fühlte sich wieder wie ein Körper an, meine Haut wurde wieder von dünnen Grashalmen gekitzelt.

Wenn ich Recht behalten würde – wenn alles klappen würde...

Vorsichtshalber schnupperte ich die Luft sorgfältig, konnte aber außer den Waldgerüchen nichts Unauffälliges entdecken, kein Feuer, keine Bomben, kein Schießpulver. Bloß die wohlriechende Natur, unzerstört wie eh und je.

Beinahe ängstlich öffnete ich erst ein Auge, dann das andere. Über mir erblickte ich neben einer grauen Wolkendecke ein dünnes Blätterdach.

Während ich mich aufrichtete, klopfte ich das Gras mit meinen sonnengebräunten Händen von meinen nun trockenen Kleidern-

Mit meinen dunkelhäutigen Händen.

Freudig entblößte ich meinen Bauch unter dem schwarzen Top, so als könnte ich meinen Augen nicht trauen. Der Alptraum hatte zwar noch kein absehbares Ende, doch diese Nebenwirkung meines Sprungs in die andere Zeit gefiel mir.

„Hier sind wir", hörte ich eine zarte, dennoch entschlossene Stimme.

Mein Kopf wirbelte herum zu der Quelle des Geräuschs. Vor mir erblickte ich ein hochgewachsenes, schlankes Mädchen mit pechschwarzem Haar und eisblauen Augen. Neben ihr stand ein geringfügig kleinerer, aber älterer junger Mann mit haselbraunem Haar, auf einen Stock gestützt – beinahe ironisch bei seinem Alter.

Ihre Gesichter waren eindeutig neugierig, vielleicht nicht ganz so glücklich, wie ich es war, sie zu sehen.

„James!", rief ich. „Elizabeth!" Vor Freude hätte ich den beiden um den Hals fallen können, selbst wenn das vermutlich komisch gewirkt hätte.

Zögerlich ging ich auf die beiden zu.

„Komm mit uns", erklärte James. Er musterte meine Augen ganz genau und ich fragte mich ob...

„Wie geht es Arthur?"

„Wir bringen dich zu einem Auto, das dir helfen wird." Sein Blick war durchdringend, als er meine Frage ignorierte. Wie sollte ich das deuten? Lebte er noch? War er auch hier tot?

„Du darfst nicht nach Hawthorne Manor", erklärte meine Großmutter.

„Deswegen geben wir dir das hier", fügte mein Großvater hinzu. In seiner ausgestreckten Hand hielt er eine kleine Handfeuerwaffe.

Verwirrt schaute ich von der Pistole in sein Gesicht, dann zu meiner Großmutter.

„Wozu...", fing ich an, brach meinen Satz allerdings ab.

Elizabeth nickte mir aufmunternd zu. Ich ergriff das kalte Metallgerät, das Leben und Tod innerhalb von Sekunden bestimmen konnte. Schmerzlich erinnerte es mich an die blutige Waffe zu Maggies Füßen, die Arthurs Todesurteil unterschrieben hatte. So viel Blut, das langsam in den See floss und ihn rot färbte, bis kein Wasser zum Schwimmen mehr da war. Bis ich durch Blut tauchte, Blut schluckte, röchelte, nach Luft schnappend nur mit Blut die Lungen füllen konnte...

Aus meinen Gedanken riss mich eine schmale Hand auf meiner Schulter.

„Komm mit uns", wiederholte meine Großmutter mit sanfter Stimme. Vertrauensvoll verstaute ich die Waffe in dem Mantel, den mir James nun anbot.

Ein eher schweigsamer Marsch wurde es, denn die beiden wollten mir meine Fragen nicht beantworten. Sie beide umgab eine merkwürdig melancholische Aura und ich wusste nicht recht, wie ich sie einschätzen sollte.

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt