Kapitel 11

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Ich schlief unruhig und wachte um 7:46:33 Uhr auf mit dem Wissen, garantiert nicht mehr einschlafen zu können. Seufzend öffnete ich die Vorhänge und blickte in eine graue Landschaft. Regen prasselte auf die Erde und ich öffnete nun auch das Fenster. Kühler Duft stieg in meine Nase. Ich genoss den Moment, schließlich ging ich ins Bad und wusch mein Gesicht. Für heute zog ich eine lange Jeans und einen dünnen Hoodie an, denn es schien nicht wirklich warm zu werden. Nachdem ich meine dicken Haare gebändigt hatte, war es erst 7:57:29 Uhr. Noch mehr als eine Stunde bis zum Frühstück. Wie sollte ich mir die Zeit vertreiben?

In meiner Handtasche kramte ich nach meinem Handy, dessen Akku leer war. Darüber hinaus war ich mir ziemlich sicher, dass es hier weder Handyempfang noch Internet gab.

Ich strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. Hatte Elizabeth nicht etwas von einem Raum gegenüber erzählt? Da waren doch irgendwelche Bücher. Geschichtsbücher. Nein, zu langweilig. Vielleicht konnte ich ja ein paar andere Räume ansehen. Wer wusste schon, was sich hinter den unterschiedlichen Türen in allen Formen und Farben verbarg.

Also verließ ich mein Zimmer und gelangte auf den wie immer beleuchteten Flur. Nach rechts ging es zur großen Treppe, die rostrote Tür gegenüber sah schon von außen langweilig aus. Nach links ging der Flur ein kurzes Stück weiter, bis er sich öffnete und scheinbar nach links und rechts weiterführte. Interessiert wandte ich mich nach links und ging an der Wand meines Zimmers entlang. Geradeaus lief ich auf eine Holztür mit einem Fenster zu. Neugierig drückte ich die Klinke herunter und gelangte in einen großen Saal, der gegenüber ein riesiges Erkerfenster hatte. Von dort hatte man eine geniale Aussicht auf die Ländereien, die heute im Nebeldunst des Regens verschwanden. Vorbei an überfüllten Bücherregalen (in welchem Raum waren hier eigentlich keine Bücher?) und Sofas ging ich zu dem Erker, dessen Fensterbank mit Samtteppich ausgelegt waren und in dem Kissen lagen. Ich setzte mich in eine Nische und lehnte meinen Kopf gegen die kühle Scheibe. Ein wohliges Gefühl breitete sich in mir aus, das Gefühl, das jeder kennt, der schon einmal im Auto einen Sturm oder einen Wolkenbruch miterlebt hatte. Das Gefühl, drinnen geborgen zu sein, wenn draußen die Welt untergeht.

Letztendlich wurde mir aber langweilig und ich verließ den Raum wieder, um neue Räume zu entdecken. Rechts war eine Sackgasse, also bog ich nach links ab. Dem Verlauf des Flures folgend, gelangte ich in eine weitere Sackgasse. Hier waren die endlosen Weiten des Hauses wohl vorbei. Nur zwei Türen, eine rechts, eine links, gingen noch vom Flur ab. Die eine war silbern gestrichen und mit Blattgold verziert, doch sie erregte nicht meine Aufmerksamkeit.

Denn die andere Tür löste in mir ein Déjà-Vu aus. Ich war mir hundertprozentig sicher, dass die Rose, die in der Mitte der Tür prangte, diese war, die in meinem Zimmer alle Möbel verzierte. War dass das Wappen von Hawthorne? Dem Namen nach hätte ich eher die weiße Blüte des Weißdornstrauchs als Wappen erwartet. Wieso sollten dann aber diese lieblich hellroten Rosen auf der Tür sein? Als Dekoration auf Möbeln, meinetwegen. Aber mitten auf der Tür?

In der Villa hatte ich bemerkt, dass jedes Zimmer für sich einzigartig war, der Speisesaal mit seinen Rüstungen und den Grüntönen oder das gemütliche Kaminzimmer in Rotbrauntönen. Des Weiteren deutete die Tür immer darauf hin, was sich in den Zimmern befand, wie zum Beispiel das Fenster in der Tür zum Aussichtsraum, in den ich eben gerade gestolpert war.

Das hier machte also keinen Sinn. Meine Tür hätte so aussehen sollen, überlegte ich. Außer, beide Räume hatten dasselbe Thema. Neugierig versuchte ich, den Knauf zu drehen, aber die Tür war verschlossen. So sehr ich auch an ihr rüttelte, sie blieb geschlossen. Merkwürdig. Eigentlich hatte ich gedacht, ich hätte Zugang zu allem und die Türen waren offenstehende Portale in einzigartige Welten.

Dass ich nicht in alle Zimmer gehen konnte, überraschte mich.

Vielleicht war dort ja etwas Gefährliches. So wie im ersten Harry-Potter-Band hinter der Tür im dritten Korridor. Die Tür ehrfürchtig betrachtend wollte ich gehen und nicht wiederkommen.

Eine rasche Bewegung in meinem Augenwinkel ließ mich innehalten. Ohne zu zögern wirbelte ich herum und sah gerade noch einen Fuß in einem dunklen Schuh um die Ecke verschwinden.

„Hallo?", rief ich den kaum vernehmbaren Schritten hinterher. Ich stürmte um die Ecke, konnte aber niemanden sehen. Ganz leise hörte ich, wie sich Schritte entfernten, dann eine Tür, die zuschlug. Mein Herz pochte laut.

Jetzt würde ich diese unheimliche Person, die mich beobachtet hatte, nie finden.

Aber sie war da. Ich hatte ihren Fuß mit meinen eigenen Augen gesehen, kein Zweifel. Diese Person musste auch in meinem Zimmer gewesen sein. Wer war das? Und was wollte dieser jemand von mir?

Vor meinem inneren Auge listete ich alles auf, was ich über die Person wusste.

Sie trug dunkle, vielleicht schwarze Schuhe.

Sie ging in mein Zimmer, während ich nicht da war.

Sie beobachtete mich.

Nicht gerade viele Anhaltspunkte.

In der nächsten Dreiviertelstunde bis zum Frühstück klapperte ich jeden Raum bis zur großen Treppe ab. Ich entdeckte einen Wintergarten, der Fenster zu einem rechteckigen Innenhof besaß, mehrere Bücherzimmer und Gästezimmer. Ich begegnete keiner weiteren verschlossenen Tür. Was war so gefährlich, dass es weggeschlossen wurde? Oder so privat?

Von der Frau oder dem Mann keine Spur.

Langsam bekam ich es wirklich mit der Angst zu tun. Wer lauerte mir auf und kramte in meinen Sachen herum? Wie konnte eine Person hier leben, ohne dass irgendjemand von ihm oder ihr zu wissen schien? Oder wusste Elizabeth von dem unerwünschten Gast unter ihrem Dach?

Fragen über Fragen...

Auf jeden Fall würde ich mich nicht mehr allein zu dieser komischen Tür begeben. Wer weiß, was dort verschlossen oder eingeschlossen war, wenn hier schon irgendwelche Fremden oder irgendwelche Einbrecher herum liefen.

Unendlich erleichtert, als die große Standuhr neun Uhr schlug, begab ich mich ins Erdgeschoss zum großen Saal.

„Morgen", rief ich Maggie und Elizabeth zu, die sich gerade setzten.

„Guten Morgen. Du bist aber pünktlich, Belle", bemerkte Elizabeth.

Automatisch prüfte ich ihre Schuhe. Elizabeth trug hellgrüne Lackschuhe, Maggie hatte gepunktete Wollsocken an. Kein dunkler Schuh.

„Ich konnte nicht mehr schlafen und bin relativ früh aufgestanden", erklärte ich.

„Hoffentlich hast du dich nicht gelangweilt. Sonst können wir morgen natürlich früher essen."

„Nein, alles gut." Ich war mir nicht sicher, ob ich Elizabeth von der Begegnung heute Morgen erzählen sollte, entschied mich aber dagegen. Vielleicht hatte sie ja irgendetwas damit zu tun. Wenn Elizabeth sich verdächtig verhalten würde, wüsste ich, dass sie irgendwie involviert war. Ich würde sie ansonsten nur warnen.

Das Frühstück verlief wie immer, Max' Platz blieb leer. Nachdem wir alle fertig waren, beschloss Elizabeth, mir die Bibliothek zu zeigen. Sie war hinter einer der Türen, die ich heute unachtsam geöffnet hatte, um nach dieser mysteriösen Person zu suchen.

Wir traten ein und Staub umhüllte uns. An die Decke reichend waren bis zum Bärsten gefüllte Bücherregale. Sie waren beschriftet und die Tür führte auf einen schmalen Mittelgang zwischen den Buchreihen. Der Geruch von altem Papier gemischt mit Leder und Staub stieg duftend in meine Nase. Ich entdeckte verschiedene Epochen als Bezeichnungen der einzelnen Reihen. Es faszinierte mich, wie der Gang scheinbar unendlich lang war und Bücherregal hinter Bücherregal beherbergte. Hinter jedem Buchdeckel steckten die Ideen und die Gedanken unterschiedlicher Personen. All diese bedeutungslosen Heldengeschichten, längst verjährt und immer noch verzaubernd. Alles zusammengefasst in diesem dunklen Raum.

Mit jeder Buchreihe fing mein Bauch stärker an zu kribbeln und ich spürte, wie mich der längst vergessene Zauber der Bücher betörte. Es war wie damals, im Baumhaus.

Licht gab es nur auf dem Mittelgang und nach den Regalen griffen von links und rechts düstere Schatten. Fenster schien es nicht zu geben. Elizabeth nahm eine Laterne, die neben der Tür auf einem Holztisch stand und reichte sie mir.

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt