Kapitel 65

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Feindselig schaute sie mich an. „Wie geht's Loverboy?", fragte sie mit fast schon gehässigem Unterton. Die Gesichter der beiden anderen wurden vor Erkenntnis schlagartig eine Kopie des blonden Mädchens, verächtlich.

Ich verstand nicht wirklich, was sie dachte.

„Was für ein Vorwand, erst dieses Telegramm, und dann nicht wieder auftauchen... Das war schon ein wenig merkwürdig", sagte sie und die beiden anderen pflichteten ihr bei. „Dann ist mir aufgefallen, dass ich dich eigentlich noch nie zuvor gesehen habe."

Ihr Blick wurde gespielt unschuldig und gleichzeitig herausfordernd.

„Ähm...", erwiderte ich sprachlos. Mist. Warum hatte ich auch genau dieses Mädchen treffen müssen?

„Du gehörst nicht zum Personal", stellte sie fest, aber ich sah Unsicherheit in ihrem Blick.

„Natürlich gehöre ich zum Personal. Wieso, denkst du, bin ich hier? Ich bin kein Gast, was sollte ich sonst hier tun?" Zwar lehnte ich mich damit ziemlich weit aus dem Fenster, aber ich vertraute darauf, dass sie zu verunsichert war, um etwas zu unternehmen.

„Sag du mir doch, was du hier vorhast. Mir ist das ziemlich undurchsichtig." Sie verschränkte demonstrativ ihre Arme.

„Catherine, Geraldine, Charlotte! Was macht ihr da? Ihr sollt anpacken!", hörte ich eine mir bekannte Stimme.

Überrascht drehte ich mich um und konnte mir gerade noch verkneifen, den Namen des jungen Manns auszusprechen, der in Jahrzehnten mein Großvater werden würde.

Misstrauisch schaute James zu uns herüber. „Und wer bist du?", fragte er.

Sein Blick blieb an meinen Augen hängen, den gleichen Augen, die seine Zukünftige besaß.

„Anna", sprach ich den verhassten Namen aus.

Seine Augen weiteten sich und er wirkte beinahe so, als hätte er einen Geist gesehen.

„Wieso kenne ich dich nicht?", fragte er mit forscher Stimme.

„Ich gehöre zum Personal, meine Mutter sagte mir, ich soll heute mal wieder aushelfen", behauptete ich. „Eigentlich wohne ich in Green Hill, aber in den letzten Tagen bin ich hierhergezogen, um zu arbeiten."

„Schön, dich kennenzulernen. Wie merkwürdig, dass wir uns vorher noch nicht gesehen haben." Er betonte seine Worte ganz komisch, so als wüsste er etwas, dessen er sich nicht sicher war. Wir schüttelten Hände und ich musste unverzüglich an unseren letzten Körperkontakt von 2015 zurückdenken. Eine tiefe Zuneigung ihm gegenüber machte sich in mir breit, ganz anders als alles, was ich Arthur gegenüber empfand. Ich bereute, diesen Mann vor mir kaum zu kennen und ich wusste, dass sich das nicht ändern würde, wenn alles glatt lief.

„Sie lügt", keifte das Mädchen hinter mir plötzlich. Ich hegte den stillen Verdacht, dass es ihr nicht um mich persönlich ging – sondern eher um eine Person, mit der sie mich heute Morgen zusammen gesehen hatte.

„Wieso sollte ich lügen?", fragte ich unschuldig. James sah ein wenig verwirrt aus.

„Heute Morgen habe ich dich gesehen, als du angeblich ein Telegramm für Mr Spencer überbringen wolltest. Dabei – dabei ist gar kein Telegramm angekommen in den letzten Tagen. Und ihr seid ewig nicht mehr aufgetaucht."

„Das klingt ja beinahe, als würdest du Mr Spencer hinterherspionieren", entgegnete James.

Ertappt schaute das Mädchen kurz zur Seite und setzte dann wieder an. „Sie wusste nichts von den Vorkommnissen von vorgestern Nacht oder der Hatz auf diese Unbekannte." Siegessicher forderte ihr Blick James heraus.

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt