„Wach auf!", hörte ich die fremde Stimme meines Vaters rufen. Ich wollte nicht, ich wollte nicht weiterkämpfen.
„Belle, es ist noch nicht vorbei", schien er in meinem Kopf zu sagen.
Wie leer gefegt waren meine Gedanken, ab und an blitzte ein Schwall roten Bluts auf.
„Belle, du musst aufstehen. Ich kann nicht länger bei dir bleiben..." Seine Worte verhallten im Nichts, aber es war mir egal. Er war mir egal, siebzehn Jahre lang war er es gewesen.
Arthur hatte mir etwas bedeutet, und ihn hatten sie mir genommen, die Zeitlosen. Warum hatten sie dieses unschuldige Mädchen so verkorkst?
Wie, wenn jemand das Licht einschaltet, konnte ich mit einem Mal sehen – auch wenn ich keine Anstalten gemacht hatte, meine Augen zu öffnen.
„Was wollt ihr noch von mir?", murrte ich, geblendet von dem gleißenden Weiß.
Vor mir standen etwa zwei Dutzend Anzugträger, einer merkwürdiger als der andere. Ich erkannte Louis und Jerome in vorderster Reihe. Die Menschentraube erinnerte an eine Sekte, blendend weiß von Kopf bis Fuß. Sogar Louis' dunkle Haut war weißgräulich, kaum zu unterscheiden von seinem maßgeschneiderten Anzug.
„Ihr habt ihn getötet", stellte ich nüchtern fest. „Ihr habt Arthur getötet, Winston Churchill ebenfalls. Und es ist euch egal, ob die Welt untergeht – wichtig ist nur, dass ihr vorher entsteht, habe ich Recht?"
„Wir wollen leben, das stimmt. Am besten in deiner Welt", sagte Jerome in einer unheimlichen Stimmlage, die entmenschlicht klang.
„Warum lasst ihr Maggie dann nicht einfach fortfahren? Dann überlebt ihr in eurer Menschenform", spuckte ich ihnen ins Gesicht.
„Es geht um das Wissen, Annabelle. Was können wir damit anrichten? Wir können so viel Gutes tun. Menschen vor Krieg retten, Krankheiten heilen, bevor sie ausbrechen."
„Das glaube ich euch nicht. Ihr sucht die Macht, koste es, was es wolle. Das Leben eines Kindes und seiner Mutter?"
„Die Zeitreisenden müssen ausgelöscht werden, damit sie nicht die Zeit manipulieren können – so wie Maggie, die deinen Geliebten getötet hat", konterte eine unbekannte Stimme aus den hinteren Reihen. Mich beunruhigte, wie viel die Männer über mich zu wissen schienen.Die Zeitlosen waren eindeutig nicht ganz koscher.
„Oder nur, weil ihr sie nicht kontrollieren könnt", stellte ich fest und erntete Schweigen. „Wusstet ihr schon vorher, dass Maggie die Verursacherin des Übels ist?", fragte ich.
„Nein", beteuerte mein Vater, aber seine Augen zeigten die Wahrheit. Ich schluckte.
„Was hat es euch gebracht, ihre Identität geheim zu halten? Damit ich nicht sehen kann, wer ihr wirklich seid? Damit ich nicht frage, was ihr geschehen ist? Denn jetzt habe ich keine Wahl, jetzt muss ich sie stoppen, vielleicht sogar töten. Jetzt kontrolliert ihr mich, weil ich etwas zurückhaben will, was mir etwas bedeutet – meine Freiheit, meinen Arthur."
Das erneute Schweigen sprach für sich.
In mir wuchs das Gefühl des Verrats zu einem Geschwür heran, das mit Wut gepaart nur darauf wartete, auszubrechen.
„Meine Tochter", fing Louis an, aber ich schüttelte ablehnend den Kopf. Er sollte diese Worte nicht in den Mund nehmen. „Belle", korrigierte er. „Egal, was du denkst – für uns alle gibt es nur einen einzigen Weg aus dieser Situation."
Auf seine Antwort war ich gespannt. Angriffslustig verschränkte ich meine imaginären weißen Arme. Ich spürte eine ungewohnte Ader an meiner Schläfe pochen, fast so wie die, die ich eben noch an Arthur gesehen hatte...
„Wir müssen – du musst Maggie stoppen, bevor sie all das anrichtet", verlangte er mit harscher Stimme. Von seiner aufgesetzten Nähe war nichts mehr übrig und er sah aus wie ein hungriges Raubtier.
„Das hätte ich tun können", entgegnete ich. „In 2015, direkt nach meiner Ankunft auf Hawthorne Manor hätte ich mit ihr reden können. Aber das reicht euch nicht, oder?"
„Einmal angerichtet, werden alle Wege dahinführen. Maggie wird immer so handeln, wie sie es getan hat", erklärte Jerome.
„Und wenn ich verhindere, dass ihr jemals existieren werdet?"
„Dann löschst du dich selbst aus", sagte mein Vater. Siedend heiß fiel mir auf, dass mein Schicksal eng mit dem der Zeitlosen zusammenhing – daran änderte auch meine Meinung über sie nichts.
„Maggie muss uns das Wissen geben, Belle, wenn du weiterhin existieren möchtest. Trotzdem musst du sie vollständig auslöschen, sonst wird es immer wieder passieren. Arthur wird wieder in deinen Armen sterben, getötet von seinem unwissenden, kurzsichtigen Kind."
„Das werden wir sehen", sagte ich aufgebracht. Sie konnten mich nicht einfach so erpressen, sie durften das nicht.
„1955 ist das Jahr", erklärte eine monotone, unbekannte Stimme. Ein kleiner Mann drängte sich nach vorn neben Louis. „Dorthin kannst du reisen. Maggie ist in Reed's School in Hampshire zu dieser Zeit. Stehle ein Jagdgewehr aus Hawthorne Manor und töte das Balg, bevor es dich, uns, Arthur, deine geliebte Welt auslöscht."
Seine Nüchternheit gruselte mich. Man spürte, dass er seit Jahren gefangen war von der Dunkelheit.
Hier und jetzt, vor der Versammlung von Männern, gab es keinen Ausweg. Aber wenn ich in 1955 wäre – bevor alles sich verändert hatte – vielleicht würde ich eine Chance bekommen, alles zum Guten abzuwenden. Es würde funktionieren, wenn ich nur Hilfe erhalten würde.
Ein verrückter Plan formte sich in meinem Kopf.
Ich senkte das Haupt.
„Okay", gab ich nach. „Ich werde tun, was ihr verlangt. Ich werde das Mädchen töten."
„Endlich kommst du zur Vernunft", sagte mein Vater und das letzte Bisschen Menschlichkeit in seinem Blick verpuffte mit seinem Lächeln voll blitzender Zähne, weiß wie der unendliche Raum der anderen Dimension.
„Es wird für dich nicht einfach, nach 1955 zu gelangen. Du musst den Zeitverlauf durchbrechen und...", fing Jerome an.
„Sagt mir einfach, was ich tun muss", verlangte ich. „Nur weil ich eurer Erpressung nichts entgegenzusetzen habe, muss ich noch lange nicht euer Geschwafel ertragen." Je empörter und kratzbürstiger ich jetzt auftrat, desto glaubwürdiger war ich.
„In Ordnung. Wir öffnen mit dir ein Portal und du gehst hindurch, die 1955 vor Augen. Selbst wenn es einfach klingt, es erfordert Konzentration. Verstehst du?"
Die Routine, die in Louis' Worten lag, machte mir Angst. Wie oft hatten sie das Prozedere durchlaufen? Wie viele Zeitreisende hatten sie schon mithilfe von halben Zeitlosen getötet?
„Du bist besonders, Belle", sagte Louis leise, obwohl die anderen ihn trotzdem genauso gut hören konnten. „Du bist auserwählt, die Verantwortliche zur Verantwortung zu ziehen. Du kannst diesen Unsinn stoppen, den sie angefangen hat, du wirst die Schuld der Schuldigen rächen." Es klang beinahe wie ein Stoßgebet.
Sektenartig umringten sie mich. Dann setzte einer der Männer zu einem unmenschlichen Schrei an, der von vielen anderen wie eine Rückkopplung erwidert wurde. Mein Kopf wurde zugedröhnt von Geräusch und ich wollte einfach nur weg, weg, weg.
1955, stellte ich mir vor, siegessicher in meinem Kopf. Sie rechneten nicht mit mir, die Zeitlosen. Ihr Wolfsgeheul erfüllte mich.
1955. 1955. 1955.
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Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne Manor
ParanormaleAls Annabelle erfährt, dass sie ihre Sommerferien bei ihrer Großmutter verbringen soll, ist sie nicht gerade begeistert. Elizabeth wohnt nämlich isoliert, umgeben von nichts als weiten Feldern und Natur. Und sie ist, laut Belles Mutter, der Teufel...