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Vorsichtig zog ich meinen roten Lippenstift nach und versuchte nicht daneben zu malen. Stolz auf mein Werk betrachtete ich mich im Spiegel und drehte mich herum. Mein enganliegendes Kostüm betonte meine zierliche Statur. Zumindest sah ich zierlich aus, wie alle anderen Ballett-Tänzerinnen, aber ich war keines Wegs zierlich. Immerhin brauchte man fürs Ballett Muskeln und ich war ziemlich gut in dem, was ich tat. Seit meiner Kindheit tanzte ich in einer Gruppe und das Ballett war immer meine Leidenschaft gewesen. Ich wollte mich stets steigern und besser werden, neue Bewegungen lernen. Ich hatte viel geübt und durfte in unserer Schwanensee-Aufführung eine bedeutende Rolle tanzen: den schwarzen Schwan. Meine schwarze Strumpfhose umspielte meine dünnen Beine, die durch das jahrelange Training mit Muskeln durchzogen waren. Mein Oberteil war auch pechschwarz, mein Tutu war aus dem schönsten Tüll gefertigt worden, den ich je gesehen hatte. Im Licht glitzerte der Tüll und das Kostüm war einfach perfekt. Innerlich klopfte ich mir selbst auf die Schulter, immerhin durfte ich heute eine besondere Rolle tanzen und dass mir diese anvertraut wurde, bedeutete mir wahnsinnig viel. Natürlich zählte ich nicht zu den bekanntesten Ballett-Tänzern der Welt. Ich war eine kleine Nummer, dessen war ich mir bewusst, aber in meiner kleinen Welt reichte mir das vollkommen aus.
Die Tür zum Umkleideraum öffnete sich und meine beste Freundin Kaitlyn streckte ihren Kopf durch die Tür. „Ach, hier treibst du dich also rum!"
Ihr sonst voluminöser Afro war in einen Dutt hochgesteckt. Sie trat hinter mir an den Spiegel und trug sich etwas roten Lippenstift auf, der ihre dunkle Haut perfekt betonte.
Auch meine braunen Haare waren in einen Dutt hochgesteckt worden, mein Augen Make-Up war wunderschön und erstreckte sich wie eine Maske in schwarz und weiß über meine gesamte Augenpartie.
„Schon nervös?", fragte Kaitlyn und grinste mich an. Sie wusste wie lange ich eine solche Rolle tanzen wollte und hatte sich mit mir sehr darüber gefreut.
„Nein, kein bisschen", erwiderte ich und seufzte. „Okay, ich bin total nervös. Ehrlich, ist es heiß hier oder schwitze nur ich so?"
Kaitlyn lachte und drehte mich zu sich, um meine Hände in ihre zu nehmen. „Lyra, es gibt niemanden in dieser Gruppe, der diese Rolle mehr verdient hätte als du, geschweige denn jemanden, der diese Rolle so tanzen könnte wie du. Du hast es dir verdient durch harte Arbeit und du gehst jetzt da raus und zeigst, was du kannst. Du musst nicht aufgeregt sein. Du kannst das. Du wurdest dafür geboren. Du gehörst auf diese Bühne, also verhalte dich auch so."
Erleichtert atmete ich auf und drückte ihre Hände. „Was würde ich nur ohne dich tun?"
„Keine Ahnung", erwiderte sie. „Wollen wir?"
Ich atmete tief durch und nickte. Kaitlyn hatte ich schon von unserer ersten Begegnung an gemocht. Damals war ich fünf gewesen und in meiner ersten Ballettstunde hatten wir irgendwie zusammengefunden. Seitdem waren wir eigentlich unzertrennlich gewesen. Sie bedeutete mir wirklich viel und ein Leben ohne sie konnte und wollte ich mir auch nicht vorstellen.
Wir stellten uns an den Rand der Bühne und beobachteten die Gruppe, die momentan ihr Stück aufführte. Jedes Jahr fand in Pickering diese Veranstaltung statt. Tanzgruppen aus der Umgebung kamen, um den Menschen ihre Choreografien vorzuführen. Auf der anderen Seite der Bühne erblickte ich meine kleine Schwester Cami. Sie war jetzt 13 Jahre alt und hatte mit sechs Jahren das Balletttanzen angefangen. Sie unterhielt sich gerade mit ihren Freundinnen. Als sie mich bemerkte, schenkte sie mir ihr schönstes Lächeln und winkte mir zu. Ich winkte lächelnd zurück. Sie bedeutete alles für mich. Ich war fünf Jahre alt gewesen, als sie auf die Welt gekommen war. Seitdem hatte ich mir geschworen, sie immer zu beschützen und immer für sie da zu sein. Sie hatte wegen mir das Balletttanzen angefangen. Wie ich trat sie jedes Jahr hier auf und ich beobachtete wie sie von Jahr zu Jahr besser wurde. Ihre Bewegungen wurden immer kontrollierter und sanfter. Ich hätte platzen können vor Stolz.
Als die andere Gruppe ihre Aufführung beendet hatte, waren wir dran. Cami nickte mir ermutigend zu, wofür ich ihr wirklich dankbar war. Das hatte mir den nötigen Mut gegeben. Als mein Einsatz dran war, tat ich das, was Kaitlyn mir gesagt hatte. Ich tanzte, als würde ich auf diese Bühne gehören, als würde diese Bühne mir gehören. Die Musik leitete mich und es war, als wäre ich alleine auf der Bühne.

Unser Auftritt hatte mit tosendem Applaus geendet. Danach war meine Schwester dran. Ich beobachtete sie hinter der Bühne und war so stolz auf sie, dass sich Tränen in meinen Augen bildeten. Auch ihre Gruppe bekam einen großen Applaus und sie rannte sofort in meine Richtung und direkt in meine Arme.
„Du warst toll", sagte ich und strich ihr liebevoll durch ihr blondes Haar.
„Und du erst!", erwiderte sie und löste sich aus der Umarmung. Sie hatte die gleichen grünen Augen wie ich. „Ich schaue mir mit Anna den Rest an. Sehen wir uns dann Zuhause?"
„Ja, bis dann", sagte ich und schon war sie weg.
„Wie wäre es mit Pizza?", schlug Kaitlyn vor.
„Ich dachte, du fragst nie", erwiderte ich, worauf sie lachte.
Wir nahmen den Großteil unseres Make-Ups ab und legten auch die Kostüme ab. Ich zog mir eine schwarze Jeans mit einem grauen T-Shirt an. Meine Ballettschuhe packte ich in meine Tasche und ersetzte sie durch weiße Sneakers. Als ich fertig war, gingen Kaitlyn und ich in die Stadt zum Italiener, um uns nach der vielen Arbeit und den vielen Proben eine gigantische Pizza zu gönnen. Immerhin hatten wir es verdient.
Erst kürzlich hatten wir unseren Schulabschluss gemacht und bald müssten wir uns Gedanken über die Zukunft machen. Eigentlich wollte ich gar nicht daran denken. Meine Freunde und ich würden dann auf verschiedene Colleges gehen und da ich ziemlich introvertiert war, würde es mir schwer fallen, komplett neu anzufangen. Jedoch wollte ich jetzt noch nicht daran denken. Ich wollte erst genießen, dass ich mit der Schule fertig war und dann konnte ich mir Gedanken über den Rest machen.
Nachdem wir gegessen hatten, gingen wir beide nach Hause, da wir ziemlich müde waren. Als ich nach Hause kam, waren meine Eltern schon da. Mein Vater saß im Wohnzimmer an seinem Laptop und meine Mutter bereitete in der Küche das Abendessen vor.
„Hey", begrüßte ich meine Mutter.
„Schätzchen! Da bist du ja", erwiderte sie und fiel mir um den Hals. „Du warst einfach fantastisch... Nein, hervorragend. Einfach perfekt."
„Du übertreibst mal wieder", gab ich lachend zurück und löste mich aus der Umarmung. „Wo ist Cami?"
„Camille ist noch zu Anna gegangen. Ich hole sie so gegen acht Uhr ab", sagte meine Mutter.
Ich nickte nur und wollte mir mein Buch holen, dass ich auf dem Wohnzimmertisch liegen lassen hatte.
„Lyra, was für ein Auftritt", lobte mein Vater mich und stand auf, um mich zu umarmen. „Ich bin so unendlich stolz auf dich.
„Danke", erwiderte ich und drückte ihn fest. „Ich muss mich jetzt erstmal aufs Ohr hauen. Weckt mich dann zum Abendessen!"
„Ist gut", erwiderte mein Vater und setzte sich wieder auf die Couch.
Ich griff nach meinem Buch und wollte nur in mein Bett, als meine Mutter mich aus der Küche rief. Zögernd ging ich zu ihr und stellte mich in den Türrahmen.
„Ja?"
„Nimm dir für morgen nichts vor. Dein Vater und ich gehen mit alten Freunden essen und du und Cami kommt mit", sagte sie.
„Was für alte Freunde?", hakte ich nach.
„Du kennst sie nicht, wir waren zusammen auf dem College und obwohl die Beiden auch in Pickering wohnen, kamen wir nie dazu, uns zu treffen."
„Und wieso muss ich mitkommen?", fragte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Jetzt sei nicht so", sagte meine Mutter. „Es gibt leckeres Essen und außerdem haben die Beiden einen Sohn in deinem Alter. Dann könnt ihr euch mal kennenlernen!"
„Na klar", erwiderte ich und seufzte. „Okay."
Ich drehte mich um und lief die Treppen zu meinem Zimmer hinauf.
Eigentlich hatte ich gar keine Lust mit den Freunden meiner Eltern essen zu gehen, geschweige denn mit deren Sohn, aber mir blieb wohl nichts anderes übrig. Als ich in meinem Zimmer war, schloss ich die Tür und ließ mich erschöpft auf mein Bett fallen. Obwohl ich eigentlich vorgehabt hatte, noch zu lesen, blieb mein Buch doch neben mir liegen, als ich einschlief.

Ich wurde aufgeweckt, als Cami auf mein Bett sprang. „Aufstehen!"
Gähnend richtete ich mich auf und sah auf die Uhr. Ich hatte mindestens eine Stunde geschlafen.
„Hey, Cami. Wie war's bei Anna?", hakte ich nach.
„Gut", sagte sie. „Wir haben über deinen Auftritt geredet."
„Über meinen?", fragte ich verwundert.
„Also auch über unseren, aber du warst einfach zu gut", sagte sie und lächelte. „Ich wünschte, ich wäre auch so gut wie du."
„Hey", sagte ich und nahm ihre Hand. „Ich war nicht immer so gut. Ich habe auch mal angefangen. Ich bin besser geworden, weil ich viel geübt habe. Und ich bin mir sicher, dass du perfekt sein wirst. Du wirst besser als alle anderen sein. Und du wirst sogar mich übertreffen."

Deep Waters [german]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt